Liebe D., schreibe dir auf losen Blättern, die ich mir hier aus dem Bücherregal zusammengeklaut habe, vor dem ich in den Pausen auf- und abtigere, zwischen Klimaanlage und Klimaanlage. Neben mir, auf dem Bett Carpentier, Heinrich Heine auf Russisch (also Гéнрих Гéйне), Maxi Wander (mit zusätzlichem Vermerk, Das gute Leben von ihrem Mann zu lesen, hast du wahrscheinlich beides). Reinaldo Montero, zu dem wir heute Abend eingeladen sind (hat alle Schreibauszeichnungen Südamerikas gewonnen und meint, sie gegen die Schenkel von Frauen eintauschen zu können, macht mich kotzen) und Achim Wagners Kubanische Tage – eine sehr planlose Ansammlung dessen, wonach ich mit schweißnassen Händen griff, aber das ist nicht der Punkt, es geht ja um die Anwesenheit von Büchern. Um zu lesen, ist es leider fast zu heiß, ich schaffe ein paar Seiten und muss Wasser trinken. Aber die Hitze – die dieses Wort nicht verdient, Hitze klingt so äußerlich, sagen wir: die Dampfwalze, die über einem hin- und herfährt, durch alle Hautschichten bricht und unanständig die Eingeweide massiert – und das Fehlen von Internet haben zur Folge, dass mein Notizheft voll ist, darum die losen Blätter, auf die ich dir Gedanken kritzle, ohne zu wissen, wann ich sie abschicke, ob überhaupt, ob du schon auf meine letzte E-Mail geantwortet hast, ob sie lesbar war – ich musste in der kurzen Spanne, in der es Internet gab, eilig tippen und war nicht sicher, ob sie rausgeht.
Ich weiß noch, dass ich bei der letzten E-Mail losmusste, weil Kevin in Moonlight Chiron sein Chef’s Special zubereitet hatte, und jetzt will ich Bögen mit Beschreibungen der Blicke zwischen den beiden Männern füllen, des Rückens von Chiron, dessen Anspannung ich durch den Fernseher riechen konnte, seiner Mimik, wenn er endlich in der Küche vor Kevin steht und sagt, worauf er sein halbes Leben lang gewartet hat: »Du bist der einzige Mann, der mich je berührt hat.« Aber eigentlich wollte ich über Kuba nachdenken, meine, dort den letzten Brief abgebrochen zu haben – über die Zukunft eines Landes, das die sozialismusgoldenen Jahre unwiederbringlich hinter sich hat und nun nur noch Armut auf den Straßen und das Kempinski Hotel gegenüber der Oper als Monument der Wirklichkeit aushalten muss. Ein Zimmer kostet im Kempinski 500 Dollar die Nacht. Erbaut wurde das Hotel von indischen Gastarbeitern, die in Containern hierhergeschafft wurden. Kubanische konnte man leider nicht bezahlen oder durfte man nicht bezahlen nach ausländischem Maßstab, und für die paar Peso trugen die Kubaner lieber die Anstrichfarbe und Zement dorthin, wo sie wirklich gebraucht wurden: zur Sanierung ihrer in sich zusammenfallenden Häuser. Wäre das nicht toll? Kempinski spendiert Baumaterialien für ganz Havanna? Einfach so, weil sie es können.
Der Ausverkauf der viel zu preiswerten Villen an ausländische Investoren ist schon lange im Gange, das war mir nicht klar, ich dachte, der kommt erst noch. Ich weiß, es ist albern zu hoffen, dass so etwas hier verlangsamt läuft. Hier sind Palmen, hier ist es heiß. Man kann diesen Selbstversuch Kuba ja auch wieder als Partyinsel sehen, Partyinsel oder Erholungsurlaub à la Hemingway. Den hat Fidel ja noch im hohen Bogen von der Insel geworfen und seine Bibliothek verstaatlicht. Gut für die Leute. Und jetzt wird alles wiederkommen: die Männer in legeren Anzügen, die glauben, ihrer Lust nach Leben freien Lauf zu lassen, wenn sie eigentlich nur Werbespots für Havana-Club-Rum nachahmen.
Weißt du, was ein lukrativer Job ist für einen Kubaner in meinem Alter? Das nie in Betrieb genommene Atomkraftwerk auseinanderzunehmen. In das zugewucherte Kühlbecken zu tauchen und Rohre abzubauen, um die Cadillacs hier mit neuen Auspuffen versorgen zu können. Die Autos brechen auseinander und neue kommen nicht rein. Zu teuer. Das haben mir meine kubanischen Eltern erzählt, Toni und Petra. Das Atomkraftwerk sollte in den Neunzigerjahren eingeweiht werden. Dann kam das Ende der Sowjetunion, und jetzt ist das eine Brache, eine Sozialismusgedenkstätte aus wertvollem Material, die in ihre Einzelteile zerlegt und in alle Ecken des Landes getragen wird. Eine Gedenkstätte für Mangel an Solidarität. Eine von vielen hier. Kuba hätte noch lange existieren können, sagen Petra und Toni. Sie flohen vor dem Hunger in Russland Ende der Achtziger nach Kuba, hier war das Leben einfach, man hatte alles, medizinische Versorgung, Bildung war umsonst und obligatorisch, und mit dem Zerfall der UdSSR schwappte die Hungersnot rüber auf die Insel. Mit ihren Folgen leben sie, aus ihren Folgen brechen ihre Kinder aus, gehen in Länder, in denen sie vorher nie gewesen sind.
Karla, eine meiner Studentinnen, nahm mich mit auf einen Spaziergang durch die Nacht. Kurz vor Sonnenuntergang setzten wir mit einer Fähre auf die andere Seite der Stadt über, sie wollte mir einen ihrer Lieblingsorte zeigen, und als wir unter der massiven Jesus-Statue Frauen beobachteten, sagte sie: »Sieh mich an, ich bin klein und dünn, ich bin in den Neunzigern geboren. Da gab es nichts zu essen, meine Familie hungerte. Und jetzt sieh dir diese Frauen an.« Wir schauten zu den posierenden Körpern in exzentrischen Kleidern vor der hilflos die Arme hebenden Jesus-Statue. »Die sind vor der Hungersnot geboren, wahrscheinlich in den Achtzigern. Siehst du ihre Hüften, siehst du die Ärsche? An unseren Körpern ist kubanische Geschichte ganz leicht abzulesen.«
Ich schaute über die Bucht von Havanna. Wenn die Sonne tief steht, spiegelt sie sich so scharf im Wasser, als würde Öl brennen. Als wir die Fähre zurück nahmen, war es Nacht. Wir landeten in einem Club, wo Dragqueens feierten. Karla und ich standen im Abseits, klatschten, versprachen einander, diese oder jene Queen abzuschleppen, schlenderten nach draußen, besoffen vom Schweiß in der Luft. Karla bestand darauf, mich nach Hause zu begleiten. Wir gingen stumm, bogen links und rechts ab, ich bildete mir ein, die Straßen gut zu kennen. Vor meiner Haustür gab Karla mir die Hand, und ich kann dir nicht sagen warum, aber ich wusste, als sie sagte: »Wir sehen uns morgen«, dass ich sie gerade zum letzten Mal sah.
Sie ist seitdem verschwunden. Ihre Freunde sagen, sie taucht bald wieder auf. Ich werde dann nicht mehr hier sein, aber das ist in Ordnung. – Ich habe jetzt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: bald wiederzukommen oder hier ganz verloren zu gehen. Und ich vermisse dich. Sehr. Bis bald.