Canim benim, ich schreibe dir an meinem zweiten Abend in Havanna, wegen der Zeitverschiebung ist es für mich Nacht, irgendwas bahnt sich in meinem Hinterkopf an wie ein Unwetter und sagt: Geh schlafen! Aber ich denke: Das Licht dieser Abende verpassen kann ich nicht. Ich frage mich, wann diese E-Mail rausgeht, du weißt schon: kein Internet hier, keine Zugänge, jedenfalls für die meisten nicht. Das Hupen der sogar im Fahren zerfallenden Cadillacs wird jetzt immer leiser. Die Füße kühlen auf dem Steinbalkon, ich trinke Wasser. Meine Locken sind ganz nass – ob von der Hitze oder meinem Schweiß –, kleben mir an den Schläfen runter.
Ich habe einen Tag hinter mir, den ich in Bildern und Temperaturschwankungen denke, weder in Worten noch in Anekdoten, von denen es reichlich gäbe, aber ich will dir nur Fotos schicken. Mein Sprachzentrum stolpert hier immer wieder ins Türkische, aber ich komme klar und habe Lena an meiner Seite, die Gästebetreuung macht und Übersetzung, und was haben wir nicht schon alles besprochen, während wir bei Sturzregen Käse aßen im Café auf der Terrasse oder am Atlantik entlangliefen, als der obligatorische Regenbogen rauskam. Und jetzt singt mir Concha Buika von Verdammten, und die Erdnüsse liegen in Papiertütchen gerollt, dünn wie Joints, auf meinem Schreibtisch, in meinem Arbeitszimmer mit Davidsternen auf den Fliesen. Das ist es also: Ich habe einen dunklen, massiven Holzschreibtisch, und die Klimaanlage hüstelt. Ich bin in Havanna.
Ich hoffe, die Zeitrechnung und du seid gut zueinander, und du genießt die Tage.
Sash
Guapa, schreibe dir ab aus dem Notizheft, während meine kubanischen Eltern Moonlight schauen, zwar mit Sendeunterbrechung, aber dafür gibt es in diesem Haus Internet, was einem Wunder gleichkommt. Und Rotwein gibt es auch, aber den trinke ich nicht, ich schreibe lieber dir:
Liege im Bett einer Hazienda im Süden Havannas, das Geräusch der Ventilatoren ist ein ständiger Begleiter, die Decke über mir ist mit leuchtstofffarbenen Sternen beklebt. Ich schätze, das ist das ehemalige Kinderzimmer. Es gibt mir jetzt seit zwei Tagen das Gefühl, Kind zu sein. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Brei ans Bett gestellt bekommen habe. Oder ob überhaupt – ich erinnere mich nicht. Mit Toni, dem Mann, spreche ich Russisch. Er holte mich vor drei Tagen vom Flughafen ab, und somit war die erste Sprache, die ich auf kubanischem Boden sprach, meine erste, die sogenannte Muttersprache. Natürlich, jetzt, wenn ich darüber nachdenke, ist es offensichtlich: Viele hier haben beim großen Bruder UdSSR studiert. Toni und Petra lernten sich in Minsk kennen, heirateten in Havanna, zogen ihren Sohn in Moskau groß. Petra ist aus der DDR, Toni war vor Minsk in Aserbaidschan zu Hause. Ihr Sohn wird nächstes Jahr mit seiner Ehefrau nach Kanada auswandern. Er ist noch nie vorher dort gewesen. »Und dann«, sagte Toni und zuckte mit den Schultern, »sind wir alleine hier.« Останемся одни. Sein über die Lippen gewachsener Schnurrbart bewegte sich fast nicht beim Sprechen, aber ich verstand ihn gut. Es gibt diese bestimmte Intonation in der Muttersprache, man weiß von Wörtern, ohne sie hören zu müssen. Ich schaute auf seine flache, leicht zuckende Hand auf der Plastiktischdecke, die andere hielt über dem Aschenbecher einen Zigarillo, schaute hoch über sein beiges Hemd und die weiße Stoffkappe zu den Korallenkakteen, die uns umrahmten. Fast eine Szene aus Tschechow. Tschechow in Havanna. Die sterbende Zeit. Irgendetwas vergeht.
Ich bin noch nicht so weit, über Havanna zu sprechen, grad noch zu grob der Gedanke, dass es die schönste Stadt ist, in der ich je gewesen bin. Die brüchigen Säulen hundertjähriger Villen, der mit einsamen Männerrücken gesäumte Malecón, gleich daneben Plattenbauten im Zickzack. Sozialismus stinkt bekannt. Über allen Farben Staub, das meiste ist blau und altrosa und schwarz, Art-déco-Paläste, in denen Katzen wohnen, irgendwo in der Stadtmitte der Kempinski-Wahnsinn, der Beweis dafür, dass der Kapitalismus ein Rad ab hat. Und der Sozialismus vielleicht alle Räder. Aber wie Hannah Arendt sagt: Die beiden Staatssysteme sind Zwillinge, das, was sie unterscheidet, ist, wie deutlich sichtbar es ist, wer profitiert.
Aber so als kurzer Gast kann ich sagen, es ist wunderbar hier. Nicht nur für mich, die Leute sind sehr stolz. Dass oft Wasser fehlt, macht nichts, sagen sie. Ich suche in ihren Gesichtern, in den Bewegungen der Arme die hoffnungslose Lässigkeit, mit dem Leben umzugehen, die ich aus dem anderen Sozialismus kenne, aus dem, in dem ich geboren wurde. Die sarkastische Art der glücklichen Schicksalslosen sieht fast immer gleich aus auf der Oberfläche. Sie zucken mit den Schultern, wenn sie sagen: »Alle zwei Tage werden Wasserkanister in der ganzen Stadt neu gefüllt. Und dann mal sehen.« Wo man Klopapier bekommt, weiß niemand so genau, manchmal hält man Leute auf der Straße an und fragt. Ich habe meine Nagelscheren vergessen und war schon in diversen Apotheken und Parfümerien, Petra lieh mir ihre (und brachte Klopapier). Alles geht irgendwie. Als meine Mutter ein Foto von Petra sah, fragte sie mich, was das für eine Tante Rosa aus Odessa sei im gelben Kleid und mit dem Gesicht einer jeden Nachbarin in Russland.
Heute hat es den ganzen Tag geregnet. Es schlägt dann auf die Blechdächer. In Havanna, hat man mir gesagt, sind zwei Dinge wichtig: ein Fächer und ein Regenschirm. Also werde ich das tun, was ich in jeder Stadt als einzig sinnvoll empfinde: werde spazieren gehen. Vielleicht mache ich die Tage eine Tour: City Tour judio en La Habana, lasse mir die jüdischen Orte hier zeigen, davon gibt es viele. Vor der Synagoge saß ich schon. Fehlt noch die koschere Fleischerei (denk nur, in Havanna, sagt man, wird man härter für das Schlachten einer Kuh bestraft als für das Schlachten der eigenen Mutter), dann noch das verfallene jüdische Kulturzentrum, ein paar Namen, ein paar Bilder.
Ich habe den Bericht einer Frau gelesen, die als Kind Fidel Castro in einer Synagoge hatte sprechen hören (in der, vor der ich saß), das hat mich bewegt. Er sagte, Marxismus sei seine Religion, aber er soll sehr respektvoll und charismatisch gesprochen haben, so wie man das halt von Fidel Castro denkt. Alles eine Postkarte.
Jetzt begegnen sich gleich Chiron und Kevin im Diner wieder, Moonlight läuft noch im Hintergrund, ich muss die Szene sehen und renne wieder zu meinen kubanischen Eltern.
Ich hoffe so vieles und will noch so viel sagen, die kommenden Tage dann. Ich klink mich wieder ein. Internetcafés sind hier lose Bänke unter halb legal angezapften Modem-Masten. Ich kenne jetzt meinen Hacker, er sitzt an einer Bushaltestelle bei mir um die Ecke, Hemd aufgeknöpft, Arme breit, Stoppeln im ganzen Gesicht, nicht nur am Kinn und auf den Wangen – dem lege ich in die eine offene Hand mein Telefon, er gibt einen Code ein, und wenn ich das Gerät wieder an mich nehme, lege ich in die leere Handfläche ein paar Münzen, bedanke mich und setze mich weiter von ihm weg auf den Bordstein. Dann schreibe ich dir. Das alles geht ganz schnell und nur, wenn die Polizei nicht patrouilliert. Bis bald. Sasha