Das Feld sei abgebrannt. Zumindest sah es danach aus.
Ich konnte ihr nicht mehr sagen als das.
Ich war in Kreisen gelaufen, zuerst um meinen Häuserblock herum, bog dann mehrmals rechts ab, vorbei am Bäcker, der nur bis mittags offen hatte und dessen Gehilfen nach Ladenschluss im Türrahmen saßen und rauchten, heute nicht mehr, dafür war es schon zu spät. Ich ging an der Tankstelle vorbei, die schon lange nicht mehr in Betrieb war und die den Obdachlosen als Treffpunkt diente, streunte durch die Straßen, schnipste mit den Fingern, als versuchte ich, mich wach zu halten. Lief den Hügel der Hasenheide hoch und dann über die dichtbefahrene Straße auf eine marmorfarbene Mauer zu, hinter der sich die Kuppeln der Moschee erhoben. Obwohl es nach Regen roch, brannte die Sonne noch, die Frau an der Bushaltestelle vor dem angrenzenden Friedhof schützte mit der einen Hand ihr Gesicht und spähte durch die Finger nach dem Bus. Ich bog ab auf das verlassene Flughafengelände und erschrak, weil es rostig wirkte, als hätten dort Brände gewütet.
Früher war ich stundenlang auf dem zum Park umgewandelten Areal spazieren gegangen und hatte mich gehütet, die brütenden Vögel im hohen Gras aufzuscheuchen, auf deren Nester die pinken Warnschilder am Rand der Spazierwege hinwiesen. Nun standen die ausgeblichenen Schilder nackt herum. Den flimmernden Horizont markierten vereinzelt Büsche und ein Grüppchen Bäume. Ich wagte mich auf die heufarbene Fläche, die trockenen, stoppeligen Gräser stachen durch die dünnen Sohlen meiner Sandalen und schnitten mir in die Fußfesseln. Ich stakste ungelenk ein paar Meter und kehrte zurück auf die Landebahn. Heute waren keine Familien da, die Drachen steigen ließen, keine Menschen, die trommelten, der Espressostand auf Rädern war fortgeschafft worden.
»Es ist ein so seltsames Gefühl, ich erinnere mich an immer mehr, das fehlt«, sagte ich zu ihr, »und gleichzeitig vergesse ich ständig alles.«
Als wir uns in der Weserstraße zufällig in die Arme gelaufen waren, setze ich an, sie zu grüßen, und merkte, dass ich ihren Namen nicht mehr wusste. Ich war ziellos vom Tempelhofer Feld Richtung Neukölln gestreift. Auf der Rasenfläche hinter dem Backsteinhäuschen an der nächsten großen Kreuzung lagen wie immer, unbeeindruckt vom Regen, der mittlerweile trotz Sonnenschein eingesetzt hatte, vereinzelt Menschengruppen, lehnten aneinander, rauchten oder schauten ins Nichts. Ich hielt mehrmals vor den Vitrinen der Restaurants, die gerade für das Abendessen aufmachten. Der Geruch von Knoblauch und Öl schlug mir in die Nase. Eine Stimme durchschnitt mehrmals das Rauschen der Autoreifen, die durch die anwachsenden Pfützen rollten. Die Sonne war jetzt endlich hinter den schnell heranziehenden Wolken verschwunden. Die Rufe kamen näher, jemand schrie meinen Namen. Ich drehte mich um und rempelte einen Regenschirm auf der Höhe meiner Schulter an. Das Kind darunter schaute empört, sagte etwas, das ich nicht verstand, ging weiter. Ich sah hoch zu den Häusern, ob von dort oben jemand nach mir rief, die Fassaden wirkten dunkler im Regen, die Balkone standen leer. Ich spürte jemanden dicht hinter mir und fuhr herum. Sie sagte meinen Namen, immer wieder. Und ich konnte sie nicht fragen: »Wie heißt du?«
Sie sagte: »So schön dich zu sehen.«
Genau hier hätten wir uns das letzte Mal getroffen, ob ich mich erinnere, ja, genau hier – und es sei ein warmer Abend gewesen, wie heute, ob ich jetzt mit jemandem unterwegs sei oder alleine und wohin, ob ich einen Drink mit ihr nehmen wolle, ja, gleich hier. Dass ich mich verändert hätte, aber nicht sehr, dass ich abgekämpft aussehe.
Wir mussten warten, bis wir einen Tisch bekamen. Die Ketten wurden gerade erst von den Stühlen gelöst. Ich wusste nicht, was sagen, und hoffte absurderweise, dass der Kellner, der mit den Karten kam, sie kennen und mit dem Vornamen ansprechen würde.
»Diese Stadt ist verrückt geworden, oder?«, fing sie an, als wir Platz nahmen. »Sie tut so, als wäre sie New York, wenn es um Tischreservierungen geht, vor den einfachsten Restaurants stehen Schlangen. Der Bus kommt nie, weil ständig alles verstopft ist. All die Touristen. Ich komme ständig zu spät zur Arbeit deswegen. Auto kann ich mir keines leisten, die Miete auch nur mehr knapp. Gebaut wird viel, aber nicht für uns, es sind Wohnungen mit drei Bädern und Fußbodenheizung, in denen man das Gefühl hat, unter Beton begraben zu sein. Und dann kommen all diese Menschen aus Damaskus, Istanbul, Moskau, Tel Aviv, Paris und wollen auch irgendwo wohnen. Die Stadt wächst und wächst und wächst – und hält die Luft an.«
Sie blähte die Backen auf, die Ärmel ihrer Jacke rutschten beim Gestikulieren immer wieder über die geröteten Handgelenke. Ich folgte ihren Bewegungen mit meinem Blick, wie sie liegende Achten vor meinem Gesicht zeichnete.
»Und dann – BUM«, sie ließ die Luft mit Druck aus ihrem Mund. »Es muss doch was zu bedeuten haben, dass die ganze Welt hierherkommt, während hier alle wegwollen. Das muss doch etwas heißen. Alle sprechen davon, dass sie gehen werden, aufs Land ziehen, in Kanada ein Visum beantragen. Warum eigentlich? Ist es nicht der beste Ort, den es gibt?«
Ich fragte sie, für wen.
Sie wisse, wie es zugeht, sagte sie, spätestens seit sie im Hangar 2 des außer Betrieb gesetzten Flughafengebäudes als Volontärin in der Aufnahmestelle für Geflüchtete arbeite. Menschen hausten da in provisorisch voneinander abgetrennten boxartigen Nischen, die Wände aus Pappe, nach oben seien die Schlafkabinen offen. Eine Stimme aus den Lautsprechern wecke sie jeden Morgen, und dann machten die Aufseherinnen das Licht in der Halle an. Sie selbst lerne dort viele kennen. Teile Essen aus, unterhalte sich, endlich zahle sich ihr Arabistik-Studium aus. Mit zwei Männern habe sie sich angefreundet, am Anfang waren sie oft gemeinsam auf der Landebahn spazieren gegangen, zu Behörden nahmen die beiden sie nicht mit. Das wollten sie nicht. Sie fühlte sich ihnen verbunden, wusste als Einzige, dass sie ein Paar sind. Einmal, bei so einem Spaziergang über das Flughafengelände, beschwerte sie sich über ihre Hausverwaltung, weil sie seit Wochen nicht auf ihre Briefe reagierte, und schämte sich sofort, weil ihr das Problem auf einmal so klein erschien. Sie ging mit diesem Gefühl tagelang herum und dann, eines Abends, saß sie mit den Männern draußen vor dem Hangar, und sie versuchten, die Kohle auf dem Tonkopfsieb der Wasserpfeife am Glühen zu halten, da fragte sie die beiden, ob sie bei ihr einziehen wollen. Und der eine lachte, zeigte auf die Lichter des Flughafenfeldes und sagte, nur, wenn sie auch so eine schöne Aussicht vor ihrem Fenster habe.
Das Zusammenleben sei in Ordnung, man verstehe sich, sie hätten viel Besuch, der Schuhberg vor der Haustür mache ihr nichts mehr aus, nur dass sie jetzt nicht mehr andere Leute mit nach Hause bringen könne. Ob wir später zu mir gehen würden dann?
Es kam so unvermittelt, dass ich daran zweifelte, ob ich sie richtig verstanden hatte, ich überging die Frage. Ihr Name war mir immer noch nicht eingefallen.
Ich sagte ihr, dass ich ebenfalls vorhatte, die Stadt zu verlassen, für länger, für immer vielleicht, woraufhin sie schlussfolgerte, dass dann ja meine Wohnung frei stünde, vielleicht könnte sie das Paar, das gerade bei ihr wohnt, bei mir einquartieren. Sie würde sich die Räume gerne anschauen, ob wir jetzt loswollen?
Ich sagte, das Tempelhofer Feld sei abgebrannt. Zumindest sah es danach aus. Ich sei auch dort gewesen.
Ihr unruhiges, spitzes Gesicht wurde kurz starr.
Ich stand ruckartig auf und verabschiedete mich, fragte mich im Gehen, ob diese Lüge, die Stadt zu verlassen, vielleicht tatsächlich einem Bedürfnis entsprach. Ich hatte die Orientierung verloren in der Stadt, in der ich aufgewachsen war, und auch das Gefühl für Jahreszeiten. Es regnete immer noch, gleichzeitig war schon wieder die tiefstehende Sonne herausgekommen. Ich spannte meinen ganzen Körper an, um auf den dünnen Sohlen meiner Schuhe nicht zu rutschen.
Der Text entstand im Rahmen des lit.COLOGNE-Projekts »Über Grenzen«, welches in Kooperation der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb mit dem lit e. V. realisiert wurde.