Sarah Khan ist Autorin und lebt in Berlin, ihre Erzählung Der Horrorpilz ist 2013 im Mikrotext-Verlag erschienen, ihre Die Gespenster von Berlin (2. erweiterte Auflage 2013) bei Suhrkamp.
Ich war als 42-jährige Referentin zum Thema Genre – Literatur für die Massen auf der ersten E-Book-Messe in Berlin zu Gast. Nach der Erlebnishaftigkeit dieser Veranstaltung gefragt, möchte ich kurz ausholen: Am 11. Mai 1986 besuchte ich als 15-jährige Schülerin das Hamburger Konzert des Pianisten Vladimir Horowitz. Ich war mir damals nicht des historischen Augenblicks bewusst, kurzfrist hatte mir ein Bekannter eine Karte geschenkt. Er sagte: »Von diesem Konzert wirst du noch deinen Enkelkindern erzählen.« Tatsächlich blieb mir dieses Konzert in starker Erinnerung, nicht unbedingt wegen der Musik, damals war ich noch Banausin, aber meine Publikumsteilnahme verdankte sich einem Unglück historischen Ausmaßes: Kurz zuvor, am 26. April 1986, kam es zum sogenannten Super-Gau im Atomreaktor von Tschernobyl. Die Dame, die eigentlich den Konzertbesuch geplant hatte, nahm aus Angst vor dem radioaktiven Fall-Out (Regen) den nächsten Flieger nach Spanien und ließ den Bekannten mit der Karte stehen. So wurde ich zwar nuklear verseucht, aber ich bekam Vladimir Horowitz zu hören. Ich könnte nun meine Pointe hübsch setzen, wenn ich sage, es verhielt sich ähnlich mit der E-Book-Messe: Die Digitalisierung wird zwar die Buchkultur, wie wir sie kennen, zerstören, aber es war ein wundervoller Tag – mit inspirierenden Vorträgen und Gesprächen, getragen von einer Pionierstimmung in der kleinen, sehr feinen deutschen E-Verlags-Gründerszene, die sich hier präsentierte und diskutierte. Jede/r, die/der sich heute noch hinter einem Wall aus gedruckten Büchern oder Toilettenpapier versteckt (denn dieses Papier immerhin wird Bestand haben, vielleicht noch mehrlagiger als heute), sollte sich für nächstes Jahr ein Herz fassen und einfach mal hingehen. Es ist anders als auf der Frankfurter Buchmesse. Kein Bücherklau und keine Männer in schwarzen Anzügen und Buchhändlerinnen mit Holzketten bis zu den Kniekehlen. Null Establishment also, von einem Programmleiter eines Großverlages abgesehen, der sich immerhin blicken ließ. Man erfuhr viel über die Nöte und Fragen, die sich junge digitale Verlage, Leser und Autoren heute zu stellen haben. Der Verleger des lukrativen Einmann-Verlages Null Papier machte sich mit seinem »Rheumadeckenverkäuferstil« (Kathrin Passig) und seinem auf toten Autoren und gemeinfreien Texten basierenden Geschäftsmodell in Sekundenschnelle unbeliebt. Nein, die wirklich hippen Verlage glauben an Gegenwartsliteratur, und vor allem an die kurze Form, die Print-Verlage ja kaum noch bedienen, da sie diese geschäftlich nur schwer in den Griff kriegen. Und das wiederum ist die frohe Botschaft, die von der #ebf14 auch an AutorInnen ausgeht. Die weitere Zukunft aber sieht so aus, dass Identitäten liquide werden, Autoren zu Lesern (wer hätte das gedacht) und Leser zu Autoren mutieren (noch so eine Überraschung). Nein, im Ernst, die Instabilität oder Stabilität der ökonomischen Rolle »Schriftsteller«, mag sie erst errungen sein, wird durch die neuen kommunikativen Verteilersysteme nicht dieselbe bleiben. Vor allem Wattpad – eine Community aus bislang 20 Millionen Autoren und Lesern aus den USA war in aller Munde, bitte googlen Sie das, sonst fährt der Zug ohne Sie ab. Gewiss, Boygroup-Fanfiktion mag auf Dauer langweilig sein, aber diejenigen, die sich hier ausprobieren, könnten in zwanzig Jahre Jonathan Franzen von der Top Ten der Bestsellerliste, die in der kleinen aber unterstützenswerten Buchhandlung auf der Fifth Ave/Ecke 22nd im Schaufenster hängt, verdrängen. Am meisten Spaß machte mir naturgemäß mein eigenes Panel mit dem legendären Helmut Pesch, der in seiner Jugend Rollenspiele spielte, seine Dissertation über J. R. R. Tolkien schrieb und sich so für eine führende Position bei Bastei Lübbe empfahl. Er hat den Aufstieg der Fantasy als Genre miterlebt, arbeitet mit Autoren wie Wolfgang Hohlbein, den er nun auch per Wattpatt übersetzt und kostenlos in den USA einführen möchte, um endlich rauszufinden, ob und wie man diesen Markt erobert. Unser beider Podium drehte sich weniger um E-Book-Belange, mehr um Tendenzen in der Genre-Literatur als solche, da sich hier kaum Unterschiede in den Distributionswegen zeigen. Pesch erzählte, dass Frauen immer härtere, brutalere Sachen lesen, was ich bestätigen kann, und dass der nächste große Hype à la Shades of Grey wieder alle überraschen wird. Meine Frage ans Publikum »Was ist das Gegenteil eines Vampires?« beantwortete eine junge Dame blitzschnell mit »Engel«. Mit diesem goldwerten Hinweis an alle schreibenden Leser und lesenden Schreiber ende ich meinen Bericht von der ersten Electronic Book Fair.