Vor wenigen Jahren lebte meine Großtante Ingeborg noch, Lübeckerin, ehemals Bibliothekarin, Fördermitglied des Marionettentheaters, Stütze der Gesellschaft. Erst als ich mir zusammenreimte, dass sie als junge, aufstrebende Frau die deutsche Besatzung Polens hautnah mitgemacht hatte, ja dass sie zum Hofe Hans Franks gehörte (Generalgouverneur von Polen, »Der Schlächter von Krakau«, nach den Nürnberger Nazi-Prozessen hingerichtet), begann ich mich extrem für sie zu interessieren.
Wir hatten dann einige Gespräche, bei denen ich leider nicht fokussiert war auf die Fragen, die sich mir erst stellten, nachdem ich in Krakau gewesen war und im Archiv der Jagiellonen Universität in bestimmten Personalunterlagen gelesen hatte. Das Institut für Deutsche Ostarbeit, die Krakauer Zeitung, der Franz Eher Verlag, das waren die Nazi-Institutionen, mit denen Ingeborg und ihre große Schwester Annemarie (meine verstorbene Großmutter) beruflich und privat eng verbunden waren.
Das Problem war nämlich, dass Ingeborg plötzlich unter Demenz litt. Sie konnte zwar gut auf automatisierte Aussagen zurückgreifen, wie: »Die Polen sind ein stolzes Volk.« Oder: »Ich habe Krakau sehr geliebt.« Das wiederholte sie ständig.
Sobald ich aber nachhakte, wurde es schwierig, sie schaute verwirrt und gab in Schutzhülle verpackte Aussagen ab. Manche Sätze allerdings waren stark.
»War das nicht komisch«, fragte ich sie, »ein fremdes Land zu überfallen und sich da auszubreiten und den Menschen alles wegzunehmen, sie sogar zu ermorden?« Da antwortete sie: »Man hat uns doch gesagt, dass wir das Salz der Erde sind.«
Sie leugnete die Verbrechen nicht, den Holocaust, die verplombten Waggons hatte sie selbst gesehen, mit den Juden drin, die nach Auschwitz kamen. Sie sah nur keinen Zusammenhang zu ihrer Rolle als Fleißiges Lieschen unter Hans Frank. Es gab auch eine starke Entlastungsgeschichte in der Familie, ihr Vater war ein Sozialdemokrat, den man geschasst und zeitweise auch inhaftiert hatte, und dessen Perspektive hatte sie sich nach dem Krieg an ihr arrogantes Lübecker Revers geheftet.
Die Verstrickung in die Verbrechen war erfolgreich gebannt. Sie hat Krakau sehr geliebt, und die Polen sind ein stolzes Volk. Erst kurz vor ihrem Tod bröckelte das, sie stellte sich Historikern der KZ-Gedenkstätte Neuengamme als Zeitzeugin zur Verfügung und bezeugte mit Ausweisen und Dokumenten, dass sie als Frau in englischer Gefangenschaft gewesen war. Das hatte man nicht gewusst, dass auch Frauen aus den Reihen der SS gefangen genommen wurden. Ingeborg hatte in den letzten Kriegswochen für eine SS-Gruppe als Sekretärin gearbeitet, sich nach heidnischem Feuersprung-Ritual zur Sonnenwende mit einem SS-Mann namens Keil verlobt und war mit der Gruppe Richtung Dänemark geflohen, wo man sie aufgriff und nach Neuengamme verfrachtete.
Das KZ vor den Toren Hamburgs war nach der Befreiung zu einem Kriegsgefangenenlager umfunktioniert worden. Auch dort stellte sie den Briten ihr Organisationstalent zur Verfügung und ließ Holz zum Barackenbau und Heizen aus den umliegenden Dörfern kommen. Aber ich wollte keine Heldengeschichten mehr von ihr hören.
Eines der letzten Gespräche, das ich mit Ingeborg führen konnte, fand unter dem Einsatz von polnischer Wurst statt.
Da ich in den Neunzigerjahren Volkskunde in Hamburg studiert hatte, bei dem Erzählforscher und Oral-History-Experten Albrecht Lehmann, wusste ich, dass man mündliche Quellen zum Sprudeln bringen kann, wenn man dem Gehirn Reize und Hilfestellungen gibt. Erinnerung ist schwere Arbeit, nur wenn diese aktiv geleistet wird, kann Verschüttetes zutage treten. Bei älteren Leuten – ehemaligen Wehrmachtssoldaten beispielsweise – kann das geschehen, indem man sie nach zurückliegenden Urlauben fragt, oder nach den Automobil-Marken, die sie einst besaßen. Die Uhr dreht so langsam zurück, die Erinnerungen werden plastischer, sortieren sich auf der Zeitlinie, die Quelle öffnet sich.
Aber wie käme ich an Ingeborgs Speicher, über der die Demenz und eine irritierende Form von Offenheit, gepaart mit Selbstgerechtigkeit, lagen? Ich kaufte in einem polnischen Lebensmittelgeschäft in Berlin polnische Wurstspezialitäten, vor allem Krakauer. Es gibt sie so nur in polnischen Geschäften, in deutschen Supermärkten oder Metzgereien ist die Wurst nach Krakauer Art vollkommen belanglos. Echte Krakauer ist knubbelig, fett, würzig, verführerisch. Auf einer Familienfeier in Schleswig Holstein servierte ich Tante Ingeborg die Delikatesse in Scheiben geschnitten auf einem Teller.
»Krakauer, liebe Ingeborg, nimm ein Stück.«
Sie griff zu. Gierig aß sie immer mehr.
»Ich habe Krakau sehr geliebt. Die Polen sind ein stolzes Volk.«
»Hat die Wurst damals auch so geschmeckt, als du in Krakau warst?«
»Nein. Da war mehr Knoblauch drin.« Das kam wie mit der Pistole, ohne Umwege, von Herz und Hirn direkt abgefeuert. Der Weg zu weiteren Erinnerungen war kurzzeitig frei.
Sie hatte die NSDAP gewählt, zusammen mit ihrer Schwester Annemarie.
Nein, sie hätten nicht die SPD gewählt, wie ihr Vater es getan hatte. Im Haus des sozialdemokratischen Volksschullehrers, der seine Kinder nach den Vokalen A, E, I, O, U benannt hatte (Annemarie, Ernst, Ingeborg, Otto, Ulrike, Elke) wuchsen junge Nazimädchen heran, mit einem riesigen Appetit auf die Welt. Geblieben sind eine Vorliebe für das Bunzlauer Geschirr, das man in allen Geschirrschränken der Großfamilie finden kann, der Gaumen für polnische Wurstwaren und eine Sehnsucht nach dem schönen Krakau.
Es gibt Gepflogenheiten in der Familie, die werden gehegt und weitergegeben; wenn man nur wüsste, woher das eigentlich kommt.