Am Tag, als Herr Schirrmacher starb, als um 12.09 Uhr mittags noch niemand wissen konnte, dass der Tod zu diesem Mann kommen würde, schrieb ich eine E-Mail an einen FAZ-Redakteur des Feuilletons, um ihm mitzuteilen, dass ich mich »wahnsinnig geärgert« hätte, da er einen Artikel von mir nicht mehr veröffentlichen wollte. Im Jahr zuvor hatte ich ihm eine besonders lange Buchbesprechung geliefert und wartete 15 Monate lang geduldig auf den Abdruck. Schließlich bekam ich die Absage (»angesichts unserer Platznot ist so ein langer Text einfach nicht unterzubekommen«) und ein relativ großzügiges Ausfallhonorar. Es gibt allerdings Artikel, für die würde man bezahlen, dürfte man sie nur in der FAZ abgedruckt sehen, und dies war so einer. Er war einzigartig, aber es gibt ihn nicht, und niemand auf der ganzen Welt interessiert sich noch für deutsche Buchbesprechungen aus dem Jahr 2013.
Schon seit Wochen häuften sich Absagen und Ausfallhonorare, auch bei anderen Zeitungen und Magazinen erlebte ich das. In Auftrag gegebene Texte wurden nicht mehr gedruckt, weil Verlagsleitungen ganze Seiten und Kolumnen gestrichen hatten. An so einem gewöhnlichen Donnerstag, an einem mit derlei Ärger durchtränkten Tag, in der Ära des kriechenden Zeitungssterbens, erlitt der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher mit nur 54 Jahren einen tödlichen Herzinfarkt. Sein Tod betraf alle Menschen, die Zeitung lieben.
Ich kannte Herrn Schirrmacher nicht persönlich. Aber drei Jahre zuvor war mein Bruder an einem Herzinfarkt gestorben, mit 29 Jahren. Ich weiß, wie das ist, wenn man so einen Anruf bekommt, mit der Mitteilung über den Tod eines Menschen, der mitten im Leben stand, wie ein Baum, der nie fällt. Und ausgerechnet die FAZ überreichte mir 2012 den erstmals gestifteten Michael-Althen-Preis (der Filmkritiker Michael Althen starb 2011) für einen Text, den ich über den Herzinfarkt-Tod des Bruders geschrieben hatte. Zu meiner Preisverleihung im Deutschen Theater in Berlin kam Herr Schirrmacher damals nicht, er hatte Zahnweh. Und so kam es, dass ich ihn zwar nicht kannte, aber vollkommen getroffen von seinem Tod war. Ich bezweifle, dass sich das, was ich empfand, plausibel erklären lässt, ich glaube, es war mehr eine Art Flashback. Alle Gefühle von damals lebten wieder auf. Ich lag die ganze Nacht wach und seufzte (so stark, dass mein Mann sich beschwerte) und sagte ständig »Ach Mensch«. Das war furchtbar, mein Mann hatte allen Grund, sich zu beschweren, aber ich hatte keine Kontrolle. Ich las jeden einzelnen Nachruf auf Schirrmacher. Bald war das Gefühl von merkwürdiger Nähe vorbei, so etwas wird mir nicht wieder passieren, glaube ich, das war zu ausgeflippt.
Als die Einladung zur Gedenkfeier für Frank Schirrmacher kam, fragte ich mich: Annehmen oder absagen? Ein Journalist riet mir, nicht hinzufahren, zumal: Wer würde mir die Fahrkarte zahlen? Daraufhin kam ich auf die Idee, die Teilnahme an der Gedenkfeier würde sich weniger falsch anfühlen, würde jemand anderes die Fahrtkosten übernehmen. Schnell fand ich eine Institution, die die Karte für die 2. Klasse zahlte. Aber auch das machte das Gefühl, dort nicht richtig zu sein, nicht ganz weg.
Schon die Paulskirche hatte ich mir anders vorgestellt, sakraler, aus dem deutschen Geschichtslehrbuch geschnitzt. Doch sie ist von Nüchternheit geprägt, kalt und clean. Vorne an der Marmorempore (von Altar kann man nicht mehr sprechen) stand das Schwarzweißporträt von Herrn Schirrmacher auf einer Staffelei, er lächelte uns nett an. Neben der Staffelei war Blumenschmuck arrangiert. Walther Rathenau hatte man 1922, als der beliebte Außenminister der Weimarer Republik nach einem Mordanschlag gestorben war, im Reichstag aufgebahrt und den Saal mit riesenhaften Palmen geschmückt, vollkommen bizarr, überall Palmen. Großen Männern ist schwer ein Blumenkränzlein flechten.
Der mir sympathischste Mensch im ganzen Saal war Schirrmachers Sohn Jakob, der junge Mann erschien in einem weißen, dünnen Sweatshirt mit weitem Rundausschnitt und halblangen Ärmeln, dazu trug er dunkle Jeans und Sneakers, kein Jackett. Er hielt seine gazellenhafte Freundin eng an sich gedrückt. Die beiden gaben ein Bild von Jugendliebe und Unausgewachsenheit, das war von rührendster Wirkung. Sympathisch war mir auch Andrew Ranicki, der Sohn von Marcel Reich-Ranicki, da er die Musik wahnsinnig genoss, die zwischen einzelnen Reden von dem Pianisten Igor Levit gespielt wurde. Da er direkt vor mir saß, bemerkte ich, wie er in der Musik schwelgte. Es ist nicht jedem gegeben, auf eine Komposition von Brahms für die linke Hand derartig abzufahren. Einen weiteren Platz auf meiner inneren Sympathietribüne bekam die FAZ-Sekretärin Frau Stützel, nicht nur weil sie mich am Einlass freundlich begrüßte, sondern weil sie sich während der Feier am Rand des Saals platzierte, traurig und ganz für sich. Unser Bundespräsident Herr Gauck hielt während der Veranstaltung die Hand der Witwe, und das war eine Geste, wie sie von staatlicher Seite nicht verbundener ausfallen kann, aber wer denkt an die Sekretärin, wer hält ihre kleine Hand?
Riesige Quadranten der Angst nahm ich wahr. Dass die Mitarbeiter der FAZ sich so geschlossen wie möglich gegen das große wie das kleine Sterben stemmten und die anwesenden Redakteure ganz besonders, wurde demonstriert, indem diese auf einer Mittelbank eine durchgehende Linie der Zusammengehörigkeit bildeten, die berühmten Men in Black, wie ich sie bereits bei meiner Preisverleihung als Naturschauspiel erleben durfte. Very strong. An diesem Tag war der Aufmacher der Seite eins im Feuilleton eine begeisterte Rezension von Harald Schmidt (der Fernsehmoderator) über eine Geschichte des Evangelischen Kirchengesangbuchs. Ein wirklich schöner Coup.
Eine Greisin im Rollstuhl (allerdings keine »schöne Greisin«, siehe Hans Ulrich Gumbrechts Gedenkrede) kommentierte relativ laut den äußeren Ablauf, die Raumtemperatur, die Musikdarbietung, die Akustik, aber ob das eher ihrer hessischen Sturköpfigkeit als einer gewissen Taubheit geschuldet war, konnte ich nicht erspüren. Ich machte Notizen zu den einzelnen Reden, weil mich die Idee ritt, ein Medley zu verfassen, aber das trägt nicht weit.
wagte neues
eröffnete es
für naturwissenschaften
auf sage und schreibe
sechs seiten
maßstäbe gesetzt
verneige mich tief
wird uns fehlen
Debattenfinder, Debattenerfinder
Dank und Bewunderung
wir Juden haben keinen leichten Sommer
hinter uns
Kübel voll Hass
was hätte Frank Schirrmacher
dazu gesagt
jeder sei ersetzlich
aber das stimmt nicht
auch wenn er am schluss in potsdam wohnte
Wie es im Anschluss an die Trauerfeier weitergehen sollte, hatte mir zwei Tage zuvor der Protokollchef des Oberbürgermeisters Herr Kalk erörtert, ich hatte mich telefonisch bei ihm erkundigt, denn Ungewissheiten in solchen Dingen sind mir ein Graus. Die Trauergemeinde fand sich zum Trauerumtrunk in der Wandelhalle vor Brezelkörben und gepflegten Getränken (Orangensaft, Wasser, Weißwein) wieder, der Bundespräsident hielt ein kurzes Schwätzchen, die Journalisten machten mit angezogener Handbremse ein bisschen Networking, ich pitchte einem FAZ-Redakteur, der sich per Mail grundsätzlich nicht erreichen ließ, einen Themenvorschlag, worauf er meinte, der wahre Grund solcher Veranstaltungen sei wohl, dass sie Gelegenheit zu vernachlässigten Gesprächen gäben. Nach zwei Stunden, gegen 12.30 Uhr, war die Veranstaltung auch schon wieder vorbei. Draußen traf ich eine junge Kölner Journalistikstudentin namens Helke Ellersiek, ihr Frühzug aus Hamburg hatte sich verspätet, sie hatte alles verpasst. Wir saßen am Brunnen, ich wechselte die Schuhe, wir kamen ins Gespräch. Diese junge Frau hatte sich aus eigenem Antrieb akkreditiert, weil sie Schirrmachers Texte studiert hatte und nach seinem Tod alles, was über ihn verbreitet wurde. Sogar die Fahrkarte hatte sie selbst bezahlt. Die Twitter Feeds, die einige Gäste aus der Gedenkfeier abgesetzt hatten, hatte sie bereits gelesen, aber die waren aussagefrei. Was hat der Bundespräsident gesprochen?, fragte sie mich. Eine kluge Frage, denn was sagt der oberste Staatsrepräsentant, wenn ein Schirrmacher stirbt? Gauck sagte nichts, antwortete ich, er trat nicht als Redner auf, war als Gast anwesend und hielt tröstend die Hand der Witwe. Da war sie überrascht, und um sie ein bisschen mehr zu schocken, sagte ich, dass der Saal nicht ganz voll gewesen sei.
Später las ich einen Artikel von dieser motivierten Journalistin, sie schrieb im Community Ressort von der Freitag (online) leidenschaftlich über die Zeitungskrise und den Medienwandel, und dass sie gerne gedrucktes Papier las, formulierte sie als Geständnis, das sie einem über einen langen Absatz hinweg erklären musste.
Wir müssen beten, dass es bald ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell für das Schreiben, Lesen und Debattieren gibt. Damit eines Tages auch Namen von Herausgeberinnen auf der FAZ prangen, nicht nur als letztes Gefecht am Ende einer großen Ära.