Dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs, der im Juli 1944 von der Gestapo in Paris verhaftet und im März 1945 im KZ Buchenwald an den Folgen der Vernichtung durch Arbeit verstirbt, verdanken wir eine Einsicht, die uns bei dem Unterfangen, die Corona-Pandemie und die Politiken zu ihrer Eindämmung kritisch einzuordnen, behilflich sein kann. In einem Essay über Moralstatistik schreibt Halbwachs ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkriegs, 1913: Der »Tod und das Alter, in dem er eintritt, [sind] vor allem ein Ergebnis des Lebens und der Umstände […], unter denen es sich entwickelt hat«, und diese Umstände sind »mindestens im gleichen Maße sozial wie physisch«. Es gäbe daher, fährt er fort, »gute Gründe für die Annahme, dass eine Gesellschaft die Sterblichkeit hat, die sie verdient, und die Zahl der Todesfälle und ihre Verteilung auf die verschiedenen Altersgruppen bringt getreu zum Ausdruck, wie groß die Bedeutung ist, die eine Gesellschaft der Lebensverlängerung beimisst«. Nichts weniger als eine Kritik der moralischen Ökonomie des Lebens ist es, die Halbwachs hier entwirft.
Dass Lebenserwartung und Sterblichkeit auch sozial bestimmt sind und jede Gesellschaft ihre je eigene Sterblichkeit hat, mag uns heute, mehr als hundert Jahre nachdem Halbwachs seine Einsichten zu Papier gebracht hat, intuitiv noch immer widersinnig vorkommen. Zudem scheint es gerade jetzt mehr denn je der politischen Rhetorik zu widersprechen, der zufolge in demokratischen Gesellschaften jedes Leben gleich viel wert ist und geschützt wird. Vordergründig unterliegt allen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie genau diese ethische Rationalität. Mehr Demokratie geht nicht, wird so nahegelegt. Doch schon die nur flüchtigste Beschäftigung etwa mit dem Berliner Sozialstrukturatlas belegt die Richtigkeit von Halbwachsʼ Überlegungen. Dort erfahren wir zum Beispiel, dass die mittlere Lebenserwartung für Berlinerinnen im Jahr 2013 bei 82,6 Jahren liegt, die Zehlendorferin im Durchschnitt hingegen ein Jahr älter wird, während die Neuköllnerin ein Jahr früher stirbt. Räumliche Segregation, Klasse, sozialer Status, Migrationsgeschichte, Wohnverhältnisse, Bildung, Diskriminierungserfahrungen, Geschlechterverhältnisse, koloniale Ungleichheiten und vieles mehr tragen, mit anderen Worten, nicht nur signifikant dazu bei, wie gelebt, sondern auch, wie gestorben wird; Lebenschancen und Sterblichkeitsrisiken sind, wie Halbwachs sagt, ›im gleichen Maße sozial wie physisch‹. Von einer »Physik der Ungleichheit« spricht in diesem Zusammenhang der französische Anthropologe Didier Fassin in seinen Frankfurter Adorno-Vorlesungen Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung (2017).
In der Corona-Pandemie wird diese in unseren Gesellschaften längst bis zur Unkenntlichkeit vergorene ›Physik der Ungleichheit‹ und die darin eingelassene Unterschiedlichkeit des Umgangs mit den unendlich verschiedenen Leben ebenso sichtbar wie die in sie eingeschriebene ungleiche Wertschätzung dieser Leben – jedenfalls für alle, die es sehen wollen. Denn in einem von vielfältigen Achsen der Dominanz durchzogenen und ohnehin schon von lebensbedrohender Ungleichheit geprägten weltgesellschaftlichen Kontext mag SARS-CoV-2 zwar alle treffen, längst klar allerdings ist, dass das Virus nicht alle gleichermaßen trifft und schon gar nicht alle gleich macht. SARS-CoV-2 hat diese Ungleichheit nicht geschaffen, doch es lebt auch von solchen global erzeugten und national verwalteten Ungleichheitsverhältnissen. Es ist daher nicht das Virus allein, das den Unterschied macht, auch die Umstände, in denen es uns jeweils trifft, tragen zu unseren Lebenschancen und Sterblichkeitsrisiken bei. Der Umstand beispielsweise, dass die einen in Ländern wie unserem mit vergleichsweise guter medizinischer Versorgung leben und die anderen keine andere Wahl haben, als auf ein von Austeritätspolitik und Privatisierungswahn oder, wie in Syrien, durch Krieg und Zerstörung skelettiertes Gesundheitssystem zu vertrauen. Die zur Eindämmung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen gehören damit genauso zu dieser Physik der Ungleichheit wie die Entscheidungen, an welchen Orten solche Maßnahmen nicht oder zu spät ergriffen werden, etwa in den Elendslagern für Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen oder, um ein weniger dramatisches Beispiel zu bemühen, an Berliner Supermarktkassen.
Didier Fassin hat vorgeschlagen, solche Zusammenhänge und Dynamiken als »Politik des Lebens« zu analysieren. Er zielt damit auf die unterschiedlichen Praktiken des Umgangs nicht mit dem, sondern mit den Leben, wechselt also vom Singular – das Leben im Allgemeinen – in den Plural – die tatsächlichen, unendlich verschiedenen Leben – und damit von der Ethik in die Politik. Eine solche ›Politik des Lebens‹ ermöglicht uns nicht nur, die abstrakte Vorstellung vom Leben als höchstem Gut kritisch in den Blick zu nehmen. Sie richtet unser Augenmerk vor allem auf jene Praktiken und Entscheidungen, Techniken und Prinzipien, mit Hilfe derer das Leben abstrakt als höchstes Gut deklariert werden kann, während zugleich die konkreten Leben unterschiedlich bewertet und behandelt werden. Die einen Leben also des Schutzes und der Rettung für wert befunden, während die anderen preisgegeben und einem vorzeitigen Tod ausgesetzt werden, die einen Körper als Gefahr betrachtet werden, während die anderen als gefährdet gelten, Gewalt gegen manche Körper gerichtet wird und nicht gegen andere.
Es sind solche Zusammenhänge, die es zu verstehen gilt, wollen wir gesellschaftlich nachhaltige, radikal demokratische Antworten auf die viral gewordene Politik des Lebens finden. Antworten, die eben nicht allein virologischer beziehungsweise immunologischer Natur sein können. Für SARS-CoV-2 wird zweifelsohne irgendwann ein Impfstoff zur Verfügung stehen. Für die Gestaltung eines demokratischen Zusammenlebens, in dem die Infektionsketten von Rassismus und Sexismus erfolgreich unterbrochen sind und das an radikaler Gleichheit, geteilter Verletzlichkeit und der Unverzichtbarkeit jeder und jedes Einzelnen, an globaler Interdependenz und reziprok gestalteter Sorge und Verantwortung füreinander orientiert ist, braucht es dagegen mehr als ein Immunserum. Weil wir ausnahmslos alle abhängig sind von unterstützenden Infrastrukturen und Netzwerken, von Bindungen und Anerkennungsverhältnissen, die uns im Leben halten, weil wir alle angewiesen sind auf ein Gemeinwesen, das sicherstellt, dass alle gut für einander und für sich selbst sorgen können, gilt es nicht nur, den Politiken der systematischen Verwahrlosung dieser Infrastrukturen entgegen zu treten, es gilt auch, die Strukturen der Unterstützung und Netzwerke des Lebens dort, wo sie fehlen, auch und gerade unter der Bedingung ihres Fehlens beziehungsweise ihrer systematischen Verhinderung zu schaffen.
Besteht die politische Aufgabe darin, dieser neuen demokratischen Sozialität eine Gestalt zu verleihen, die, um einen Begriff aus Donna Haraways Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chtuluzän (2018) aufzugreifen, ein Leben mit anderen, in »Responsabilität«, ermöglicht, so ist es schließlich die Aufgabe der Kritik, jene moralische Ökonomie freizulegen, die den Widerspruch zwischen der abstrakten Wertschätzung des Lebens einerseits und der Entwertung der konkreten Leben andererseits sowie die differenzielle Verteilung und Verwaltung des Sterblichkeitsrisikos legitimiert und aufrechterhält – eine Ökonomie, die die Gesellschaften der Gegenwart so nachhaltig imprägniert hat.