Mein lieber Vater,
es ist doch alles nicht wahr. Ich habe keinen Vater, ich hatte keinen Vater gehabt, ich bin wirklich mein Vater.
Als solcher stehe ich nun hier auf dem Territorium des ersten großen Erziehungs- und Straflagers, wie die eben durch freie geheime Wahlen stracks zur Macht gekommenen Nationalsozialisten diesen Platz bei Dachau nannten. Der vielfache Mörder Theodor Eicke begann hier seine Blutkarriere. Er baute den KZ-Archipel nach dem Muster dieses Lagers auf. Seine Nachfolger verfestigten den Ruf Dachaus als Mord- und Totschlagstätte erster Ordnung. Am 28. März 1945 wurdest Du hingerichtet, einen Monat später waren die Amerikaner im Lager.
So wuchs ich ohne Dich auf und weiß daher gar nicht, ob ich Dich Vati oder Papa oder einfach René genannt hätte. Deine damalige Freundin, meine Mutter, die zugleich mit Dir im August 1943 verhaftet wurde, fand wenige Jahre nach dem Krieg einen neuen Freund, Schurli Nürnberger, der fünf Jahre hier bzw. in einem Außenkommando von Dachau als politischer Häftling und Spaniak inhaftiert war. Schurli ließ in seinen Erzählungen das Lager immer wieder auferstehen. Er sprach mit fröhlicher Stimme von den Ereignissen, die ihm hier und in Lauingen zugestoßen waren. Ich bekam den Eindruck, so schlimm konnte es hier gar nicht gewesen sein. Dachau war sozusagen ein Märchenhorst, ein Heldenepos eines Simmeringer Arbeiters, von ihm selbst mit unzähligen Fortsetzungen über vierzig Jahre erzählt. Wenn er nicht in den Nächten noch Jahrzehnte nach seiner Befreiung so geschrien hätte, wäre ich noch auf die Idee gekommen, er wäre hier daheim gewesen.
Du aber warst damals ein frisch von deiner Liebsten bekehrter Kommunist und wurdest als solcher erschossen. Was hattest Du Dir gedacht, als Du zusammen mit meiner Mutter aus dem Resistancefrankreich im Auftrag der Kommunistischen Partei nach Linz gingst, um Dich dort gemeinsam mit einem kleinen Haufen anderer Kommunisten wie Fliegen auf die Zunge des braunen Reptils zu setzen? Die ganze Gruppe ging hoch, und Deine Gerty war die Einzige, die überlebte.
Ich dachte immer, Du bist aus Liebe zu ihr Kommunist geworden, schon in Gurs, einem Internierungslager in Südfrankreich, wo Du sie zum ersten Mal gesehen hattest, wars so?
Geflüchtet aus Wien bist Du Ende 1938 als Jude. Über Belgien und Frankreich kamst Du dort an, der lebenslustige unpolitische Feschling. Dort wärest Du erst so richtig von der Notwendigkeit überzeugt worden, sich nicht bloß als Jude durch Europa jagen zu lassen, sondern als Kommunist etwas dagegen zu unternehmen. Und meine Mutter, kampferfahren eigentlich seit dem 15. Juli 1927, als sie sich vierzehnjährig hinter dem Denkmal der Pallas Athene vor dem Wiener Parlament vor den Schüssen der Schoberpolizei geschützt hatte, nahm Dich in die Arme, und zugleich lagst Du auch schon in den Armen der Partei.
Eigentlich, aber was ist schon eigentlich, war meine Mutter Dir ein Todesengel, denn ohne sie kennengelernt zu haben, wärest Du ja auch nach Buenos Aires entkommen wie Deine damalige Frau.
Immer wieder hat Gerty Schindel sich zum Vorwurf gemacht, dass Du mit ihr kein Glück gehabt hast, und Deine Ermordung hier lag als Schlagschatten beständig auf ihrem sehr langen Leben. Es war für mich merkwürdig, dass ich immer wieder sie darauf aufmerksam machen musste, was sie nicht anzunehmen bereit war: Nicht sie war schuld an Deinem Tod, sondern der dort, welcher nicht weit von hier auf seinem Berchtesgardener Berg saß, der nicht nur wegen des bayerischen Alpenglühens rot verfärbt war.
Und von Dir blieb mir lange Zeit bloß, dass Du Dich immer ordentlich gewaschen hast und für Österreichs Freiheit gestorben bist.
Du bist für Österreichs Freiheit gestorben, gleichgültig, ob dein letzter Satz vor dem Erschießunspeloton war: Es lebe das freie Österreich!, oder, was wahrscheinlich ist: Es lebe Genosse Stalin und der Sozialismus!
Sags mir, Väterchen, was hast Du gerufen? Geträumt hatte ich einige Male, Du hättest gesagt: Passt mir auf den Buben auf, damit er ein Mann wird. Dass er nicht mit vierunddreißig Jahren stirbt, sondern gar nicht.
Nun ja, bis jetzt habe ich mich an meinen Traum gehalten. Und verzeih mir Folgendes: Ich habe mich häufig gefragt, was aus mir geworden wäre, wenn Du überlebt hättest. Wenn Du mich miterzogen hättest. Wäre ich geworden, was ich recht gern geworden bin, ein Schriftsteller?
Ach was, sagte meine Mutter, René wäre nicht bei uns geblieben. Er war sehr lebenslustig, und das liebte ich auch an ihm. Du bist doch selber voll Humor und lebenslustig, antwortete ich ihr. Es blieb mir nichts übrig, oder hätte ich Dir eine Trauerweide sein sollen, da er weg und gestorben war?
Da bin ich nun, hier an diesem Unort, dem damaligen Ziel von Myriaden von Schmeißfliegen, da stehen wir jetzt. Es riecht nach gar nichts. Es könnte still sein, sonnendurchflossen. Und es ist doch eine Lust zu leben, nicht wahr, René?
Du nickst, ich weiß, dass Du nickst.