»nicht nur gesund und schön, sondern auch dienlich und nützlich«
Wer heute bei den Leuten sein will, schwört allem Stillstand ab. Beweglichkeit ist nicht nur nützlich und schön, sondern eine Glaubensfrage. Mobilität erscheint als heilige Pflicht, denn Stillstand bedeutet Rückschritt, Leben hingegen ist Entwicklung und Veränderung.
Auch der Trend zum beschaulichen Gehen ist Teil der globalen Fortschrittsideologie. In ihm manifestiert sich das gegenläufige Bedürfnis nach Entschleunigung. Die Idee der rasanten Progression und jene der kontemplativen Bewegung gründen in demselben Paradigma. Salonfähig wurde das Zufußgehen als Reaktion auf die Dynamik der industriellen Revolution und die technischen und sozialen Umwälzungen, die mit ihr einhergingen.
Die Spannweite des Themas ist groß: Friedrich Schillers Gedicht Der Spaziergang ist ein Denkmal selbstbewusster Bürgerlichkeit, Henry David Thoreaus Vom Wandern verklärt die zivilisatorisch bedrohte Wildnis, Walter Benjamin kultiviert das Flanieren in der Großstadt, Vilém Flusser das Nomadische der menschlichen Existenz, Lucius Burckhardt ›Spaziergangswissenschaft‹ untersucht das Verhältnis von Nützlichkeitsdenken und der Idee des Naturschönen.
Auch literarisch ist der Fußgänger allgegenwärtig: Für Thomas Bernhard verbindet das ›Gehen‹ Denken und Schreiben, Peter Handke durchquert die Agglomerationen Europas und Bob Dylan besingt den ›Rolling Stone‹, den seine Bestimmung im Unterwegssein findenden Hobo – Let me die in my Footsteps, lautet die Devise.
Der gemeinsame Nenner dieser Varianten der ›Wanderlust‹ ist das moderne Individuum, das die Welt weniger als etwas Abstraktes und Allgemeines wahrnimmt, sondern als subjektive, sich stetig verändernde Erfahrung. Für diese schweifende Form der Aufmerksamkeit bildet der Spaziergang das alltagsnahe Modell par excellence: Man geht in ritualisierter Weise, bald planmäßig und bewusst, bald ziellos und willkürlich, um am Ende – gleichsam als ein Anderer seiner selbst – wieder am Ausgangspunkt anzulangen.
So gesehen ist Spazieren »nicht nur gesund und schön, sondern auch dienlich und nützlich«. Robert Walser, von dem diese Einschätzung stammt, hat die Tragweite der an eine konkrete Person gebundenen Wahrnehmungsästhetik früh erkannt. Je länger er schreibt, desto mehr läuft sein Werk darauf hinaus, die Welt über die Sicht des Einzelnen zu erfassen. Jedes Ich existiert nolens volens ›jetzt‹, das heißt zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort.
Walsers ›Jetztzeitstil‹ will dies nicht unmittelbar zeigen, kein hyper-authentisches Abbild des Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstroms geben, wie es die Naturalisten taten. Vielmehr stellt er den Prozess der Bewusstwerdung dar, das wundersame Zusammenwirken von Erfahrung, Erlebnis und Reflexion.
Mustergültig gelingt ihm dies in der vom Trauma des Ersten Weltkriegs geprägten Erzählung Der Spaziergang. 1917 erschienen, erhebt sie die subjektive Sicht zum kritischen Gegenpol der kollektiven Erfahrung, die hochgradig nationalistisch und politisch geprägt ist.
Der Text ist bahnbrechend, weil er nicht in naiv-emphatischer Manier die Wahrnehmungen eines Spaziergängers ausbreitet, sondern erzählt, wie ein Schriftsteller die Kulturtechnik des Spaziergangs nutzt, um das Ineinandergreifen existenzieller, philosophischer, persönlicher und sprachlicher Faktoren zu erfassen.
Der in der Vergangenheit geschilderte Spaziergang und dessen in der Gegenwart erzähltes Erinnern und Aufschreiben werden temporal geschieden, im Verlauf der Erzählung jedoch zunehmend vermischt. Schildern, Erinnern und Beschreiben bilden dabei einen gleitenden Zeitraum eigenen Rechts, der nicht vorgibt, unmittelbar die Wirklichkeit abzubilden, sondern laufend seine Künstlichkeit in Erinnerung ruft.
Heute ist klar, dass Walsers Poetik auf einer politischen Haltung basiert: Maßgeblich sind nicht die Hauptsätze und Heerstraßen, sondern die Ab- und Ausschweifungen, die Kleinigkeiten und Nebenschauplätze, nicht die Dinge an sich, sondern unsere Ansichten und Vorstellungen von ihnen, die Umstände und Rahmenbedingungen, unter denen sie erscheinen.
Verschiedene Neuerscheinungen, die alle im Robert Walser-Zentrum in Bern erarbeitet wurden, möchten die Aktualität und Anschlussfähigkeit dieser Haltung veranschaulichen: die kommentierte Neuausgabe von Robert Walsers Spaziergang-Erzählung, ein Tagungsband mit internationalen Beiträgen zum Thema, die Dokumentation einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Walser und last but not least die Neuausgabe von Carl Seeligs Wanderungen mit Robert Walser:
– Robert Walser: Der Spaziergang. Hrsg. von Lukas Gloor, Reto Sorg und Irmgard Wirtz. Berlin: Suhrkamp 2020 (Werke. Berner Ausgabe; 14).
– Annie Pfeifer und Reto Sorg: (Hrsg.): »Spazieren muß ich unbedingt«. Robert Walser und die Kultur des Gehens. Paderborn: Fink 2019 (Robert Walser-Studien; 1).
– Thomas Hirschhorn: Robert Walser-Modell. Hrsg. von Reto Sorg. Bern: Robert Walser-Zentrum 2020 (Schriften des Robert Walser-Zentrums; 5).
– Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Hrsg. von Lukas Gloor, Reto Sorg und Peter Utz. Berlin: Suhrkamp 2021 (BS; 1521).