Ein Jahr nach Erscheinen der Anthologie Wie wir leben wollen. Texte für Solidarität und Freiheit erzählen der Herausgeber Matthias Jügler sowie drei der damaligen Beiträger – Lara Hampe, Stephan Thome und Shida Bazyar – in zwei Folgen von ihren Erfahrungen und Beobachtungen im Alltag. Ob im Flugzeug nach Wien oder mitten in Halle, Berlin und Taipeh.
Matthias
Vor ein paar Monaten lasen wir aus der Anthologie, das muss in Bremen oder Frankfurt gewesen sein. Jemand aus dem Publikum fragte anschließend, ob wir Hoffnung hätten, dass Fremdenfeindlichkeit, die Angriffe auf Asylbewerberheime, dass all das bald wieder aufhören könnte. Ich habe kein Gesicht mehr vor Augen, keine Stimme im Kopf. Aber an die Frage erinnere ich mich gut: Haben Sie Hoffnung, dass …? Natürlich haben wir, die Autorinnen und Autoren und ich als Herausgeber in diesem Moment die Rolle einer Expertengruppe übernommen: auf der Bühne sitzend, die Bücher in unseren Händen, gut vorbereitet. Was aber antworten auf eine solche Frage? Was folgte, war Stille.
Sprachlosigkeit ist ganz sicher nichts, das kennzeichnend für Lesungen aus Wie wir leben wollen ist. Ich erinnere mich beispielsweise an ein Wortgefecht, das Inger-Maria Mahlke sich in Berlin mit einem Zuhörer lieferte. Dieser Zuhörer hatte während der Lesung gerufen: Ausländer seien nun mal krimineller als wir Deutschen, das könne man nachlesen in diesem Buch, das diese eine Richterin geschrieben habe … die habe endlich mal den Mut gehabt, das zu sagen, was doch alle denken … (Lara, da wären wir wieder beim Stichwort Vorenthaltung, denn diese Wortmeldung suggerierte nichts anderes als: Um uns zu schaden, wollen die Politiker einfach nicht zugeben, was sie längst wissen, dass Ausländer nämlich krimineller sind als Deutsche.) Daraufhin erklärte Inger-Maria, studierte Kriminologin, worin der Unterschied zwischen Laien- und Fachliteratur liegt. Anschließend empfahl sie dem Zuhörer drei, vier Fachbücher, die sich mit genau diesem Thema befassen und zeigen, dass seine These nicht stimmt, dass Ausländer eben nicht krimineller sind als Deutsche. Es folgte eine minutenlange, hitzige Debatte. Jedenfalls: Sprachlosigkeit und Anthologielesungen, das passt nicht zusammen.
In diesem Moment jedoch, als wir gefragt wurden, ob wir Hoffnung auf baldige Veränderungen hätten, herrschte Stille. Ich erinnere mich, wie ich die anderen Beitragenden auf der Bühne ansah und niemand sich rührte und wie auch ich, während ich sie ansah, mich nicht mehr rührte. Wie lange blieb es still? Irgendwann sagte ich mit dünner Stimme: »Ja, natürlich. Allein dass wir hier sitzen und darüber reden, ist doch Grund zur Hoffnung, oder?« Wenige Tage später der Hitlergruß in Halle und weitere Vorfälle, ähnlich abstoßend und menschenverachtend, die ich entweder mit eigenen Augen sehe oder von denen Freundinnen und Freunde mir berichten.
Aber was sollten wir anderes haben als Hoffnung?
Lara
Noch eine Anekdote, an die ich dieser Tage denken muss: in Wien gab es vor der Trumpwahl eine Lesung zum Thema Flucht; auf der Bühne saß unter anderem ein junger Autor, dessen Kurzgeschichte aus der Perspektive eines Geflüchteten erzählt war. Nach der Lesung gab es eine Diskussion mit einer älteren, sehr belesenen Schriftstellerin, die sich recht schnell zuspitzte, als der Autor Empathie für Rechtspopulisten forderte; er erklärte, dass man in »elitärer« Ablehnung rechter Meinungen viele Menschen mundtot machen würde, was für ihn von größerem Belang war als Solidarität mit jenen, die von den Rechtspopulisten diskriminiert würden, und: er wäre sogar durchaus daran interessiert, sich mal in der rechtsradikalen Szene umzuschauen und darüber einen Roman zu verfassen. Was da auf der Bühne saß, war in meinen Augen ein größeres Interesse an »hartem Stoff« (der sich medial wunderbar vermarkten ließe) anstatt eines Verstehen-Wollens. Ein größeres Interesse an Selbstinszenierung als am Kritik-Üben.
Ich sehe eine Parallele zwischen jenem jungen Autor in Wien und dem Mann im Flugzeug: Beide waren stark verunsichert und in Opposition. Beide waren angesprungen auf Gedanken, die sie sich irgendwo zusammengeklaubt hatten. Beide, so meine Vermutung, wollten letztlich nur geliebt werden.
Du fragst nach Hoffnung, Shida; ich möchte die Frage, auch, weil das hier ja ein Gespräch unter Schreibenden ist, auf uns beziehen und meine Antwort einfach und pamphletisch formulieren, weil mir die Situation in Wien gezeigt hat, dass dies längst nicht selbstverständlich ist: dass wir, die wir täglich mit Sprache umgehen und denen so viel Raum zugestanden wird, den Mut aufbringen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gegen rechte Gedanken vorzugehen und Position zu beziehen. Dass wir, egal wie sich diese Gedanken präsentieren, egal, welcher Rhetorik sie sich bedienen, egal, wie verhüllt sie sich geben, wachsam und nachdrücklich bleiben. Dass wir uns in Zeiten des Zorns in Vernunft üben, kraftvoll und gelassen. Dass wir nicht schweigen und zugleich nicht in Selbstgerechtigkeit versinken. Dass wir Marginalisierte, die sich in ihrer Wut (die sich ja häufig gegen sie selbst richtet) menschenfeindlichen Positionen verschreiben (oft im Zuge eines identitätsstiftenden Abgrenzungsmechanismus gegenüber anderen sozialen Randgruppen), anhören und aufklären. Dass wir uns nicht hinter dem Schleier des Unwissens verstecken – sondern »das Unterdrückte in der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenstellen« – Deleuze/Guattari.
Shida
Das ist ja schön und schrecklich gleichzeitig. Dass wir uns unsere eigene Hoffnung sind. Ich stelle mir vor, ich hätte bei eurer Lesung im Publikum gesessen, lieber Matthias. Hätte nach der Stille auf die Frage nach Hoffnung gespannt auf die Antwort gewartet. Und hätte nach deiner Antwort gedacht: So einfach soll das sein? Dass ihr dort sitzt? Während es woanders brennt?
Und dabei ist mein Verlangen nach großen Antworten ja vielleicht nichts anderes als eine Reaktion auf die sensationsgierige Haltung, wie sie sich in den Aussagen des jungen Autors in Wien oder in Spielfilmproduktionen über den NSU artikuliert. Da will man als Antwort nicht so was Schlichtes wie »wir reden darüber« oder »wachsam und nachdrücklich bleiben«. Da will man als Antwort Superheld*innen, Zaubertränke und magische Sprüche. So schnell geht das, mit der Ansteckungsgefahr. Ich stecke schon mitten drin. Vielleicht ist das die größte Falle: das eigene Vermögen zu unterschätzen, weil alles um einen herum so viel lauter ist. Und es ist laut. Egal, ob sie sich AfD oder Wutbürger nennen. Sie sind so laut. Wie verhält es sich in Taiwan?
Stephan
Natürlich ist es hier in Taiwan auch oft schön. Heute, zum Beispiel. 25 Grad, Sonne, am Abend werde ich bei der Familie meiner Freundin sehr gut essen, und den Jetlag habe ich auch überwunden. Ein guter Zeitpunkt, um ein bisschen optimistisch zu sein … eigentlich. Mein dominierendes Gefühl in den letzten Wochen und Monaten war leider ein anderes. Bei der täglichen Lektüre der Nachrichten stellt sich so eine Art Empörungsroutine ein. Die ewige Wiederkehr des gleich Schrecklichen. Wieder ist ein Boot mit Flüchtlingen gesunken, wurde irgendwo ein Ausländer attackiert, hat ein AfD-Politiker eine Hetzrede gehalten – das alles ist schrecklich, ja, aber eben ungefähr so schrecklich wie beim letzten Mal und wahrscheinlich so schrecklich wie morgen, übermorgen oder nächste Woche. Alles, was mir dazu einfällt, habe ich schon so oft gesagt. Der sprachliche Ausdruck der Routine ist die Phrase, und gegen die sind wir AutorInnen natürlich empfindlich. Was bleibt dann noch, Schweigen? Geht nicht, denn die reden/hetzen/pöbeln ja auch weiter.
Gegen Mitte der ersten Staffel von The Knick erfährt der schwarze Arzt übrigens doch noch eine gewisse Anerkennung. Wie sich herausstellt, ist er ein außergewöhnlich talentierter Mediziner, der ganz allein ein neues Verfahren zur Behandlung von Leistenbrüchen entwickelt hat (in dem dunklen Kellerraum, in den er von seinen Kollegen verbannt wurde). Zumindest in den Augen mancher Kollegen gleicht das den Makel seiner Hautfarbe aus …
Wir lernen: Humanity is hard to cure, aber Fortschritt ist möglich. Meistens vollzieht er sich in winzigen Schritten.