Anlässlich des 85. Geburtstages von Thomas Bernhard haben wir einige Übersetzer zu ihren Erfahrungen mit den Texten Bernhards befragt. Wir erkundigten uns nach den Herausforderungen und Freuden bei der Arbeit am Text, fragten nach Lieblingsworten oder -sätzen im Werk Bernhards und nach der Eignung seiner Texte zum Deutschlernen. In vier Teilen präsentieren wir nun die Antworten der Übersetzer, die Bernhard ins Ungarische, Chinesische, Italienische und Tschechische übertragen.
Bei der Übersetzung von Bernhards Texten ist es wichtig, die charakteristischen Merkmale seines Stils beizubehalten, insbesondere die kreisenden Sätze und den typischen Humor, der sich mit ihnen untrennbar verknüpft. Ja, gerade in den langen, endlos kreisenden Sätzen zeigt sich die Sehnsucht des Autors, einen endlosen Atem zur Verfügung zu haben, der es ermöglichen würde, alles und ALLES auf der Welt – wenigstens DIESEN einen Gedanken – in einem einzigen Satz aussprechen zu können. Dieses Merkmal darf man nie, unter keinen Umständen, in der Übersetzung verlieren, es ist das Grundlegendste in Bernhards Texten. (Die Länge der Sätze soll nicht das Hauptproblem sein, im Gegenteil, sie unterstützt eher das vorher Gesagte.)
Mein Lieblingssatz könnte vielleicht dieser prophetische aus Auslöschung. Ein Zerfall sein:
»Im übrigen, habe ich zu Gambetti gesagt, ist es unwahrscheinlich, daß zum Ende dieses Jahrhunderts diese Welt, wie wir sie heute kennen und verdauen müssen an jedem Tag, noch besteht, das bezweifle ich entschieden, alle Anzeichen stehen dafür, dass die Welt in kürzester Zeit sich so verändert, daß sie nicht mehr wiederzuerkennen ist, sie wird von Grund auf eine veränderte und tatsächlich von Grund auf zerstörte sein.«
Natürlich ergeben sich bei der Übertragung von Bernhards Texten einige Hürden. Beispielhaft wäre folgender Satz:
»Meine Übertreibungskunst habe ich so weit geschult, daß ich mich ohne weiteres den größten Übertreibungskünstler, der mir bekannt ist, nennen kann. Ich kenne keinen andern. Kein Mensch hat seine Übertreibungskunst jemals so auf die Spitze getrieben. […] Je älter ich werde, desto mehr flüchte ich in meine Übertreibungskunst, habe ich zu Gambetti gesagt. Die großen Existenzüberbrücker sind immer große Übertreibungskünstler gewesen, ganz gleich, was sie gewesen sind, geschaffen haben, Gambetti, sie waren es schließlich doch nur durch ihre Übertreibungskunst. Der Maler, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Maler, der Musiker, der nicht übertreibt, ist ein schlechter Musiker, sagte ich zu Gambetti, wie der Schriftsteller, der nicht übertreibt, ein schlechter Schriftsteller ist, wobei es ja auch vorkommen kann, daß die eigentliche Übertreibungskunst darin besteht, alles zu untertreiben, dann müssen wir sagen, er übertreibt die Untertreibung und macht die übertriebene Untertreibung so zu seiner Übertreibungskunst, Gambetti.«
Da es im Tschechischen etwa kein richtiges Wort für »Untertreibung« im Bernhardschen Sinne gibt, konnte ich es nicht direkt ausdrücken, sondern musste es mit Hilfe des Wortes »Zurückhaltung« übersetzen – ich erfasste es als eine Art »zurückhaltender Übertreibung« und die nächste Stufe der Übertreibung dann als eine »übertriebene Zurückhaltung«, denn es geht nicht um eine »Verharmlosung« der Übertreibung, sondern um eine zurückhaltende Hyperbel der Übertreibung.
Als ich vor Jahren den Stimmenimitator übersetzte, entdeckte ich zwei kleine Details, die die Arbeit eines Übersetzers und ihre tückischen Fährnisse klar dokumentieren:
Es wurde im Text über »Händels Rafeal in Béjarts Choreographie« geredet – aber es gibt keine solche Komposition und kein solches Musikstück bei Händel; soll man es also eigenmächtig auf Rafael korrigieren oder einfach so stehen lassen? War es reine Phantasie? Denn Händel hat auch keinen Rafael verfasst…!
In einem anderen Fall war von »altes Ragusa« die Rede, von der alten kroatischen Stadt Cavtat, und Bernhard nannte sie »Ragusa Veggia« – mir schien, es müsse doch »Ragusa Vecchia« heißen, und weil Bernhard die Manuskripte bekanntlich oft sehr schnell geschrieben hatte, dachte ich mir zuerst, dass hier vielleicht ein Tippfehler vorliege – bis ich dann erfahren habe, es könne im alten Mailänder Dialekt tatsächlich Veggia heißen, wie aus den Recherchen der mit mir befreundeten Inge von Weidenbaum aus Rom hervorgeht:
veggia = die Maske einer miesen alten Vogelscheuche
veggia = eine miese alte Schlampe, die mit ihrem Besen die Leute verscheucht, aber die
»den Löffel nicht abgeben will«
veggia = botte = Fass
veggia = carro= Karren, Wagen
Die Etymologie ist dementsprechend as uncertain as can be. Sowohl in der Stadt Ragusa als auch in der Ortschaft, die jetzt den Namen Cavtat trägt, könnte sehr wohl veggia für vecchia gebraucht worden sein. Schließlich hatten beide, ebenso wie Mailand, lange genug unter österreichischer Herrschaft gestanden.
Mein Fazit ist demnach, dass man in solchen Fällen keine Korrekturen vornehmen sollte, es sei denn, der Autor lebt noch und kann es näher erklären.
Radovan Charvát, Thomas-Bernhard-Übersetzer ins Tschechische