Philipp Weiss spricht über seinen Roman Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.
Japan ist ein roter Faden, der sich durch deinen Roman zieht. In allen fünf Teilen spielt dieses Land eine wichtige Rolle. Einige deiner Figuren brechen aus Europa dorthin auf, suchen vor Ort nach allem Möglichen, nach Glück, nach Fossilien oder nach einer verschwundenen Liebhaberin. Was interessiert dich an Japan?
Japan hat mich, als ich 2012 das erste Mal dort war, augenblicklich gefesselt. Weniger aufgrund seiner so oft beschworenen vermeintlichen Andersartigkeit. Selbstverständlich ist Japan anders als Europa. Etwa durch die nach wie vor sehr präsente shintoistische Tradition der Ahnen- und Naturverehrung. Und nicht zuletzt wurde das Land über tausend Jahre von der Kultur Chinas geprägt. Vielmehr hat mich aber fasziniert, dass mir Japan so vertraut erschien. Einen japanischen Freund habe ich einmal nach dem Wesen Japans gefragt. Er antwortete, es sei die Aneignung des Fremden. Das klingt seltsam für europäische Ohren, die im Innersten immer das Eigenste vermuten. Oitsuke, oikose! heißt es im Japanischen: aufholen, überholen! Japan hat sich nicht nur das Wissen und die Kultur Chinas einverleibt, sondern auch in einer historisch einzigartigen Weise Wissenschaft, Wirtschaftsweise und Ideologie des Westens – allem voran in der sogenannten Meiji-Ära und später durch die amerikanische Präsenz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die allzu vertrauten Risse und Absurditäten der europäischen Lebensweise findet man also in Japan wieder – gesteigert, fast bis zur Entstellung. Es war diese Vertrautheit, die aber, wie in einem Kafka-Roman, leicht verschoben und teils ins Absurde überhöht ist, die mich von Anfang an in eine sehr fruchtbare innere Spannung versetzt hat. Dazu kommt, dass Ästhetik in Japan auch im Alltäglichsten einen viel höheren Stellenwert besitzt als in Europa, was mir natürlich sehr entspricht. Ich fühle mich manchmal wie ein in Europa geborener Japaner.
Ein Teil deines Romans ist in der Form eines Tagebuchs erzählt. Dieses Tagebuch enthält die Aufzeichnungen einer jungen Französin aus großbürgerlichem Haus, Paulette Blanchard, die in die Ereignisse rund um die Pariser Kommune 1871 verwickelt wird. Allerdings sind diese Aufzeichnungen alphabetisch geordnet, gleichsam in die Form einer Enzyklopädie gebracht. Welche Rolle spielt das Enzyklopädische? Warum diese Form?
Paulette verfällt in den 1870er-Jahren in ein »Fieber des Ichs«, schreibt Tausende Seiten Tagebücher und editiert sie Jahre später in Form eines enzyklopädischen Projekts, um jene Momente zu fassen, in denen, wie sie schreibt, »die Welt über das Ich hereinbricht«. In der Form begegnen sich die äußerste Subjektivität des Tagebuchs und die formal inventarisierende Objektivität des Lexikons. Die Enzyklopädie hat hier also eine ordnende, für das Ich konstitutive Funktion. Es ist ein aufwendiger, obsessiver Selbstentwurf – die Utopie, das eigene Leben überblickend zu ordnen –, der natürlich zum Scheitern verurteilt ist. Der gesamte Roman folgt diesem enzyklopädischen Gestus. Mich fasziniert das ausgesprochen: diese utopische Idee, das gesamte menschliche Wissen zu repräsentieren, die Welt als Gesamtheit fassbar zu machen. Die Romantiker meinten in der Nachfolge Hegels, der Roman müsse die »Totalität« der Welt im poetischen Akt erahnbar und mitteilbar machen. Im 21. Jahrhundert, so scheint mir, lebt das utopische Projekt der Enzyklopädisten, der Weltausstellungsbetreiber, Kartographen und Romantiker wieder auf. Unter anderen, technischen Vorzeichen: durch Internet und Big Data.
Neben den historischen Ereignissen in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts widmet sich der Roman noch zahlreichen anderen wirklich großen Themen: Evolution, weibliche Emanzipation, Klimawandel und Klimapolitik, sogar eine Geschichte des Universums wird erzählt. Wie muss man sich die Recherche zu einem solchen Projekt vorstellen? Womit fängt man an?
Die Arbeit an diesem Roman war für mich beglückend. Ich habe mich, unterbrochen von mehreren Recherchereisen nach Japan, über Jahre zurückgezogen auf einen Landsitz und Tag und Nacht gearbeitet. Ausgangspunkt war die Frage: Wie weit kommen mein Denken und meine ästhetische Suche, wenn ich mein Leben völlig dem Schreiben widme? Ich selbst als Mensch bin zeitweise buchstäblich verschwunden. Ich war ein Gespenst, angeleitet durch die jeweilige Figur, in deren Denken ich mich gerade vertiefte. Wie nimmt ein japanisches Kind die Welt wahr? Wie reagiert es auf eine Katastrophe? Was weiß es über die Welt? Wie denkt eine Klimaforscherin und theoretische Physikerin? In welcher Wirklichkeit wächst eine junge bürgerliche Frau im Paris des späten 19. Jahrhunderts auf? Was erlebt sie? Ich habe mir die geistigen Landschaften meiner Figuren Stück für Stück kartographiert, Unmengen von Büchern parallel gelesen, immer auf der Suche nach dem anschaulichen Detail, Gespräche geführt, Reisen unternommen. Oft bin ich mit einem 50 Kilogramm schweren, mit Büchern prall gefüllten Rucksack von Bibliothek zu Bibliothek gelaufen. Der Trick, um dabei nicht die Nerven und den Überblick zu verlieren, lag darin, die Recherche zu parzellieren. Ich brauchte immer nur einen vagen Überblick über das Ganze und beschäftigte mich jeweils Tag für Tag mit nur einem winzigen Ausschnitt.
Das Verhältnis von Mensch, Technik und Natur ist ein zentrales Thema deines Romans. Von Fotoapparaten des 19. Jahrhunderts bis hin zum Reaktorunglück eines Atomkraftwerks und darüber hinaus zu Cyborgs – ist es im Roman am Ende eine Tragödie, dass der Mensch glaubt, die Natur beherrschen zu können?
Absolut. Aber ich glaube, der Mensch kann gar nicht anders. Er ist seit seiner Entstehung ein technisches Wesen. Er war auf gewisse Art immer schon ein Cyborg. In Platons Dialog Protagoras erfahren wir über die Schöpfung der Welt: Zeus beauftragt Epimetheus, die Geschöpfe der Erde mit Eigenschaften auszustatten. Er gibt also den einen Kraft, den andern Schnelligkeit, einem Tier gibt er Klauen, einem andern wiederum einen dicken Panzer. Nur ein Geschöpf vergisst er. Es ist der Mensch. Er ist ein Mängelwesen, ein Geschöpf ohne Eigenschaften. Also bringt ihm Prometheus die Weisheit und das Feuer, und Pandora bringt ihm ihre verhängnisvolle Büchse. Seither verfolgt der Mensch sein prometheisches Projekt. Er versucht sich aus der Klemme zu denken. Er versucht, die Natur zu beherrschen, sich gegen deren Gewalt und Willkür, gegen die Unvorhersehbarkeit technisch aufzurüsten, mit immer komplexeren und aufwendigeren Mitteln, die wiederum noch komplexere Mittel zu deren Beherrschung erfordern. Das Interessante dabei ist, dass der Kontrollverlust dialektisch wiederkehrt. Immer raffiniertere technische Mittel hat der Mensch ersonnen, um zu kontrollieren, bis die von ihm geschaffene technische, zweite Natur selbst unbeherrschbar wurde.
Wird die Menschheit in die Virtualität verschwinden? Werden wir die Materie hinter uns lassen?
Man kann die Geschichte der Technik als eine der sukzessiven Entkörperlichung betrachten. Mit dem Hammer externalisiert der Mensch sein erstes Werkzeug, die Hand, mit dem Rad seine Beine, mit der Schrift sein Gedächtnis, mit dem Internet sein Zentralnervensystem. Im Übertritt in die Virtualität geschieht aber ein qualitativer Sprung, etwas nie Dagewesenes entsteht, das bisher allein den Träumen und der Literatur vorbehalten war: eine völlig immaterielle Welt. Theoretisch kennt sie keine physikalischen Gesetze und keine Grenzen. Die Computersimulation, so könnte man sagen, ist die Externalisierung unserer Träume. Und unserer Alpträume.
Ein Band deines Romans erzählt von der jungen Japanerin Abra, der wir losgelöst von allen Realitätskoordinaten auf einer Art Irrfahrt, einer beklemmenden und gleichzeitig atemberaubenden virtuellen Odyssee durch Tokio folgen. Diese Geschichte ist vollständig als Comic umgesetzt. Was interessiert dich an diesem Medium?
Ich bin auf diesem Feld überhaupt kein Experte. Aber ich habe mir sagen lassen, dass die mitunter aufregendsten und innovativsten Erzählexperimente in diesem Medium stattfinden. Das kann ich mir sehr gut vorstellen. In der literarischen Sprache kommen musikalische Aspekte wie Rhythmus und Klang ebenso zum Tragen wie visuelle, d. h. sprachliche Bilder und geistige Landschaften. Realisiert man diese Bilder nun als solche, entfalten sie eine derartige Kraft, dass die Sprache daneben völlig verblasst. Das empfand ich als erleichternd und aufregend. Internet, Fernsehen und Zeitung machen von dieser Eigenschaft der Bilder ja tagtäglich Gebrauch. Die Bilder im Comic jedenfalls durchbrechen die Linearität der Erzählung, sie haben eine immersive Qualität, man kann in ihnen versinken, man kann auf ihnen umherwandern, sich treiben lassen und sich in Details verlieren. Das kam der Geschichte, die ich erzählen wollte, sehr entgegen.
Der Comic wurde von der Wiener Künstlerin Raffaela Schöbitz gezeichnet. Wie muss man sich diese Zusammenarbeit vorstellen?
Es war eine Freude, mit Raffaela zu arbeiten. Wir haben uns regelmäßig getroffen und unsere Ideen und Vorstellungen ausgetauscht. Das lief alles völlig reibungslos. Es war mir wichtig, ihr möglichst viele Freiheiten bei der zeichnerischen Umsetzung meines Textes zu lassen. Nach jeder neuen Seite habe ich Feedback gegeben, es ging dabei aber meistens nur um Details und um das gemeinsame Bemühen, visuellen japanischen Klischees zu entgehen. Raffaela hat sich dieser Aufgabe völlig unerschrocken und mit größter Hingabe angenommen. In ihrer Umsetzung zeigt sich eine phantastische künstlerische Vielseitigkeit, die, so finde ich, den ganzen Roman noch einmal widerspiegelt.
Ist Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen ein politischer Roman? Ist er eine Art Anklage? Eine Abrechnung gar? Oder eine Liebeserklärung an die Menschheit?
Alles das zusammen! Ich war 30, als ich mit der Arbeit an dem Roman begonnen habe. Er ist, sagen wir, ein erstes Resümee.