Seit 2002 organisiert Martin Jankowski Lesungen internationaler Autoren in Berliner Vollzugsanstalten – honorarfrei und abseits jeder Öffentlichkeit. Heute ist Literatur hinter Gittern Teil der EU-Projekte Arts & Culture in Prison und Learning in Prison.
Martin, die von dir initiierte Veranstaltungsreihe Literatur hinter Gittern gibt es nun schon seit über zehn Jahren. Wie bist du auf die Idee dazu gekommen?
Ich sollte damals für das internationale literaturfestival berlin (ilb) das Rahmenprogramm gestalten, mit dem wir die Literatur aus den Veranstaltungsräumen hinaus in die Stadt, auf die Straße bringen wollten. Und als ich eines Abends durch die Pappelallee zu Fuß nach Hause ging und über verschiedene Konzepte nachdachte, kam ich an dem kleinen Büro des Gefängnistheaters aufBruch vorbei. Ich dachte, was für eine tolle Idee, professionelle Theatermacher mit einem Ensemble aus Inhaftierten zusammenzubringen und die gemeinsam erarbeiteten Inszenierungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Da öffnete plötzlich eine Frau die Tür zum Büro und fragte, ob ich nicht hereinkommen und eine Tasse Tee mit ihr trinken will. So kamen wir ins Gespräch. Sie war damals Regisseurin der Theatertruppe und erzählte mir von ihren Erfahrungen in der JVA Tegel, dem größten Männerknast Europas. Am Ende lud sie mich ein, sie zu begleiten, um mir selbst ein Bild zu machen. Also habe ich mir das angeguckt und dem Leiter des ilb, Ulrich Schreiber, von der Idee erzählt. Unter dem Dach des Festivals habe ich dann ein eigenes literarisches Programm für die Insassen der JVA entwickelt. Seitdem gehen ausgewählte Autoren jedes Jahr freiwillig und unentgeltlich hinter Gitter, um aus ihren Büchern zu lesen und mit den Gefangenen zu sprechen. Die Lesungen sind anders als bei aufBruch nicht öffentlich, und die Insassen stehen nicht auf der Bühne, sondern sitzen im Publikum. Doch beide Projekte – aufBruch und Literatur hinter Gittern – vermitteln künstlerisch zwischen der Welt innerhalb der Gefängnismauern und derjenigen außerhalb. Literatur als soziale Kraft – das ist die Idee.
Mit welchen Gefängnissen arbeitet ihr zusammen?
Angefangen haben wir in der JVA Tegel, bei den schweren Jungs, die wirklich lange sitzen. Die haben einen geregelten Tagesablauf, arbeiten, sind in ihrer Freizeit in Gruppen aktiv, machen Sport und haben auch eine tolle Gefangenenzeitung. Da gibt es eine gut strukturierte soziale Bildungsarbeit, in die wir uns rasch einklinken konnten. Dazu kamen nach und nach andere Gefängnisse, sehr erfolgreich zum Beispiel die JVA Moabit. Moabit ist eine Untersuchungshaftanstalt, dort sitzen die Jungs, während sie auf ihren Prozess warten. Anders als in Tegel verbringen die Gefangenen meist 23 Stunden von 24 alleine in der Zelle. Bei der Lesung müssen die Vollzugsbeamten deshalb darauf achten, dass sich nicht zufällig zwei gemeinsam Angeklagte nebeneinandersetzen, um sich abzusprechen. Darauf kommt man erst mal gar nicht, was alles beachtet werden muss: in welcher Reihenfolge aus welchem Flügel welche Gefangenen in den Saal gebracht werden und wo sie sitzen … logistisch ist das unglaublich aufwändig. Deshalb haben uns die Wärter anfangs gehasst, wir kamen von draußen, brachten Unruhe in den Gefängnisalltag, es hätten Sachen oder Informationen geschmuggelt werden können … Die Direktoren und Sozialpädagogen aber waren begeistert. Auch mit dem Freigängerknast Hakenfelde haben wir eine Zeitlang zusammengearbeitet, dort sitzen vor allem Wirtschaftskriminelle und Promis, die morgens zur Arbeit gehen und abends wiederkommen, das hat fast Jugendherbergscharakter. Dort haben wir das Projekt allerdings wieder eingestellt, weil wir gemerkt haben, dass es nicht richtig funktioniert. Unter den Gefangenen herrschte ganz schlechte Stimmung, alle hatten Angst, ihre Privilegien zu verlieren und in die JVA Tegel zurück zu müssen. Auch in zwei anderen Fällen – beides Frauengefängnisse – haben wir die Zusammenarbeit beendet, weil wir mitbekommen haben, dass die Insassen Druck von ihren Sozialpädagogen bekommen haben. Für uns ist es aber eine absolute Bedingung, dass die Leute freiwillig an den Lesungen teilnehmen.
Wie wählt ihr die Autoren aus?
Das ist die eigentliche Kunst – den jeweils passenden Autor zu finden, damit am Ende alle glücklich sind: Insassen, Vollzugsbeamte, Sozialarbeiter, Direktoren, Schriftsteller und wir als Veranstalter. Der Strafvollzug ist in Deutschland Ländersache, deshalb können wir kein Gesamtkonzept entwerfen. In jedem Bundesland, im Grunde sogar in jedem Gefängnis, herrschen andere Bedingungen, die Stimmungen und Atmosphären sind so unterschiedlich wie die Insassen, und erst wenn man all das berücksichtigt hat, kann man überlegen, welchen Autor man einlädt. Wir mussten auch schon Weltstars der Literatur eine Absage erteilen, weil der Aufwand zu hoch gewesen wäre oder weil wir wussten, das sind zwar tolle Schriftsteller, aber das würde im Knast nie funktionieren. Wir suchen die Autoren natürlich danach aus, ob das, was sie schreiben, Relevanz für die Gefangenen hat. Und Prominenz ist wichtig, dann geben sich alle Beteiligten mehr Mühe. Und noch wichtiger ist die Sprache. Anfangs haben wir gerne deutschsprachige Autoren eingeladen, weil dadurch vieles einfacher war – wir brauchten keinen Übersetzer und mussten nicht mit ausländischen Behörden kooperieren –, wir haben aber schnell gemerkt, dass das nicht der Realität der Gefängnisse entspricht. Die Mehrheit der Insassen hat einen Migrationshintergrund, und das spielt natürlich eine wichtige Rolle. Bei der Lesung von Feridun Zaimoglu saßen beispielsweise sehr viele türkischstämmige Zuhörer im Publikum, und sie haben ihn auch gleich gefragt, warum er seinen türkischen Namen deutsch ausspricht. Zaimoglu hat geantwortet, dass er deutsch schreibe, ein deutscher Dichter sei, doch das wollten sie nicht so einfach gelten lassen. Sie haben ihm ordentlich Zunder gegeben: »Guck dich doch mal an, was glaubst du denn, warum sie dich zu diesem internationalen Festival eingeladen haben, überleg doch mal …« Der hat Blut und Wasser geschwitzt. Konfrontiert mit der Realität in den Gefängnissen, mussten wir uns also die Frage nach der Mehrsprachigkeit auch in der Literatur neu stellen und haben beschlossen, mehr internationale Autoren einzuladen und jeden in seiner Originalsprache vorlesen zu lassen. Für die Gefangenen ist das eine große Herausforderung, aber auch ein großer Gewinn.
Wie reagieren die Insassen?
Lesungen in Gefängnissen funktionieren völlig anders als Veranstaltungen in Literaturhäusern oder Buchhandlungen. Die Insassen sind meist keine klassischen Leser, sie reagieren anders, diskutieren anders. Es geht weniger um ästhetische oder literaturtheoretische Fragen, sondern ganz konkret um das eigene Leben. Deshalb war auch die Lesung von Katja Lange-Müller ein solcher Erfolg, weil ein Protagonist ihres Romans Böse Schafe selbst in der JVA Tegel einsaß und deshalb als Figur sofort akzeptiert wurde – und mit ihm die Autorin. Ob das Buch von Beziehungskrisen handelt oder vom Tod, die Insassen diskutieren mit dem Autor darüber so persönlich, als ob sie in der Kneipe mit Freunden reden würden.
Wie erleben die Autoren die Lesungen?
Das kommt immer auf den Autor und die Situation an. Was aber die meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass die Diskussion über ihre Bücher so völlig anders läuft, als sie es gewohnt sind. Es sind eben nicht Literaturhausdiskussionen, bei denen sich einer meldet und seine Thesen vorträgt, während der Rest gespannt zuhört. Es wird ganz schnell existentiell. Und die Autoren legen dann auch die Karten auf den Tisch. Sie haben ihre Themen schließlich nicht ohne Grund gewählt. Manche packen dann sogar Sachen aus, die sie sonst nie offenlegen würden. Andere reagieren schon auf die Umgebung, Alan Duff zum Beispiel, ein inzwischen über 60-jähriger neuseeländischer Autor maorischer Abstammung, der 1990 mit seinem Roman Once Were Warriors weltbekannt wurde. Kaum waren wir im Hof der JVA Tegel, klammerte er sich an ein Geländer und fing an zu weinen. Nachdem er sich beruhigt hatte, gingen wir rein, und als es nach der Lesung zum Gespräch kam, sagte er: »Leute, nehmt eure Arme runter, ich muss euch was sagen. Es ist nämlich völlig krass, dass ich auf dieser Seite des Tisches sitze und ihr auf der anderen. Das ist mir bewusst geworden, als wir reingegangen sind. Die Wahrheit ist, dass ich selbst eine Zeitlang im Knast gesessen habe, in England. Statt zu studieren, habe ich Mist gebaut, wurde erwischt und landete im Gefängnis. Und die Wahrheit ist auch, dass ich dort mit dem Schreiben angefangen habe. Das Buch, aus dem ich eben gelesen habe, habe ich hinter Gittern begonnen. Das weiß die Öffentlichkeit nicht, aber als ich hierher kam, habe ich gemerkt, wie irrwitzig das ist.«
Du bist inzwischen nicht mehr an Bord des ilb. Wie geht es mit dem Projekt weiter?
Zunächst möchte ich sagen, dass ich mich darüber freue, dass Literatur hinter Gittern auch nach meinem Ausscheiden beim ilb nahtlos und mit großem Erfolg weitergeführt wird. Wir von der Literarischen Aktion – einem gemeinnützigen Verein – sind aber das ganze Jahr über aktiv, und das Projekt ist mittlerweile europaweit bekannt. Ein englischer Schauspieler und selbst Knastaktivist, der Kulturbildung in Gefängnissen organisiert, hat in der Zeitung über uns gelesen und mich angeschrieben. Er fragte, ob wir nicht Lust hätten, an einem EU-Projekt zu Art and Culture in Prison teilzunehmen. Da unser Konzept so einfach und wirkungsvoll ist, stieß es überall auf Interesse. Was als kleines Projekt begonnen hat, ist mittlerweile zum Vorbild für ähnliche Unternehmungen in anderen europäischen Ländern geworden und wird sogar auf der Ebene der EU-Gesetzgebung für Bildung hinter Gittern zur Kenntnis genommen.
Das Interview führten Christian Heilbronn und Martina Wunderer.