Sina Aulbur:
Katie Kitamura: Intimitäten. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser, 2022
Katie Kitamura erzählt die Geschichte einer Frau, gefangen in einer Welt voller Unsicherheiten. Ein aufregendes und zugleich intimes Buch, das selbst Fragen aufwirft: nach globaler Gerechtigkeit und der Notwendigkeit von Eindeutigkeit in unsicheren Zeiten.
Saul Bellow: Humboldt’s Gift. Viking Press, 1975
Für die laut Philip Roth »frechste von Bellows Komödien« erhielt der amerikanische Autor 1976 nicht nur den Pulitzer-Preis in der Kategorie Belletristik, das Buch trug auch dazu bei, dass Saul Bellow im selben Jahr den Nobelpreis für Literatur erhielt. Keine Neuerscheinung – aber eine persönliche Neuentdeckung.
Ruth Feindel:
Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Aus dem Englischen von Karin Harrasser. Campus, 2018
Dezentralisiert euch! Scheint mir dieses Buch zuzurufen. Es ist eine inspirierende Begegnung mit dem Nachdenken darüber, wie wir uns selbst als Menschen dezentralisieren können. Um uns einzufinden in eine gleichberechtigte Koexistenz mit allen anderen Lebewesen, die diesen Planeten beleben.
Wolfram Lotz: Heilige Schrift I. S. Fischer, 2022
Ein Auto voller Familie, zerteilt in akustische Hoheitsgebiete. Links hinten: Starwarshörspiel über Kopfhörer; nach rechts hinten gedimmt: Die Schule der Magischen Tiere. Fahrerinnensitz: leises Fluchen; Beifahrersitz: lautes Vorlesen aus der Heiligen Schrift I. Und über alles tönt die unerschütterlich stabile Stimme des Navis. Dieser Rezeptionsmodus war genau der richtige für dieses großartige Opus von Wolfram Lotz, in dem es um den Wahnsinn des Alltags geht, den Wahnsinn des Schreibens, den Wahnsinn des Betriebes, Getriebes und die Lust am Weitermachen, trotz allem.
Nina Peters:
Karl Marx und der Kapitalismus. Herausgegeben von Raphael Gross, Jürgen Herres und Sabine Kritter für das Deutsche Historische Museum
Die Karl Marx-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, kuratiert von Sabine Kritter, hat kompaktes, theoretisches Wissen auf originelle Weise vermittelt. Im Katalog lässt sich nachlesen, wie Marx – was zunächst nicht abzusehen war – zum globalen Influencer wurde. Oder, wie er seine anfängliche Technikgläubigkeit relativierte und zum Schluss kam, dass der Einsatz von Kunstdünger zu einer rascheren Auslaugung der Boden führen würde, so Bruno Kern in seinem Aufsatz War Marx ein Öko?. Als Stichwortgeber für Umweltaktivist:innen taugt Marx bis heute, wohl auch zukünftig. Kerns Aufsatz vorangestellt ist ein Zitat aus dem dritten Band des Kapital: »Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja, alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«
Wolfram Lotz: Heilige Schrift I. S. Fischer, 2022
Wolfram Lotz hat mich 2022 mit der Heiligen Schrift I den Notaten von Momenten des Jahres 2017, lange beschäftigt; hinsichtlich der Frage von Intimität, die des Autors, die seiner Weggefährt:innen. Wer wird eingeladen auf diese Bühne in Buchform, wer wird da wie, wozu beschimpft. Wie gültig ist das heute? Wir haben andere Probleme. Und doch. Wie sich Wolfram Lotz preisgibt und zeigt: wie radikal der Akt des Schreibens sein kann, aus schierer Not geboren, wie seine Literatur entsteht, sein Rhythmus, sein Sound, sein Humor. Heiliger Humor. Und wie dieses durchlässige Schreiben das Jetzt für die Zukunft festhält. Mich tröstet diese Augenblicks-Literatur. Sie macht froh. Die dicke Schrift bleibt hier, im Regal, am Ende eines Jahres der Konzentration, wo auch viele Bücher raus müssen.
Doris Plöschberger:
Anne Garréta: Not One Day. Translated from the French by Emma Ramadan and the Author.Deep Vellum Publishing, 2017
In ihrem confessional memoire Not One Day macht sich Anne Garréta zur »Archivarin ihres Begehrens« und lässt jeden Tag die Erinnerung an eine Frau aufleben, die sie einst liebte. Den konzisen und dichten Reflexionen liegt die Frage zugrunde, was Verlangen jenseits des Besitzen-wollens bedeuten kann.
Eliot Schrefer: Queer Ducks (and Other Animals): The Natural World of Animal Sexuality. Katherine Tegen Books, 2022
Erstaunliche 1500 Spezies im Tierreich praktizieren das, was man »same-sex behavior« nennt, darunter Dickhornschafe, Feldmaikäfer, Große Tümmler (die bekannteste Delfinart) und Bonobos. Sie alle geben sich dem Oxytocin-Rausch lieber in gleichgeschlechtlichen Begegnungen hin, lernt man aus Eliot Schrefers kenntnisreichem und ungemein witzigem Buch. Und man versteht: Queerness bedeutet nicht das Ende der Evolution, sondern könnte der Schlüssel zum friedlichen Miteinander und zum Fortbestand der eigenen Spezies sein.
Demian Sant’Unione:
Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß. Wagenbach, 2022.
Für mich eine der spannendsten Stimmen der italienischen Gegenwartsliteratur – ein Lichtblick in Zeiten, in denen der Blick nach Italien eher Sorge bereitet. Auf diesen neuen Roman der Autorin freue ich mich seit einigen Monaten.
Mercedes Lauenstein/Juri Gottschall: Splendido. Italienisch Kochen mit besten Zutaten und viel Gefühl. Dumont, 2022.
Als Ergänzung zum Roman noch einmal Italien, aber anders: Die beiden Macher:innen dieses großartigen italienischen Kochbuchs begeistern mich vor allem mit ihrer Entscheidung, den Rezepten keine Mengenangaben beizufügen, sondern die genaue Zusammensetzung der Speisen dem Geschmack der Leser:in zu überlassen. Die ersten erfolgreichen Versuche haben mir große Lust auf viele weitere kulinarische Ausflüge in den Weihnachtstagen gemacht.
Dorothea Studthoff:
Sophokles/Kurt Steiner: Philoktet. Diogenes, 2022
Eine Neuübersetzung des besten Theaterstücks aller Zeiten. In jeder Fassung und Bearbeitung mindestens sehr gut, also vermutlich auch in dieser.
Amalie Skram: Die Leute von Hellemyr. Guggolz, 2022
1200 Seiten Amalie Skram, das verursacht bei mir frohlockendes Händereiben. Es klingt ein bisschen wie die norwegischen Buddenbrooks, und Weihnachten scheint mir eine gute Zeit, um in die Probleme vergangener Zeiten zu entschwinden.
Jacob Teich:
Leslie Jamison: Die Empathie-Tests. Hanser Berlin, 2015
Einfühlungsvermögen klingt erst einmal gut. (Auch wenn es so eine Sache mit der Empathie sein könnte, wie der Klappentext nahelegt.) Essays mag ich auch. Und ich mag Heinz Helle, der wiederum dieses Buch mag.
Remo H. Largo: Babyjahre. Piper, 2007/2017
Aus Gründen.
Martina Wunderer:
Enis Maci (Hg.): Filamentous Magic Carpets. März Verlag, 2022
Heike Geißler: Liegen. Eine Übung. Rohstoff, 2022
»›Filamentous Magic Carpets‹, das sind: lebendige Vehikel. Sie spenden Schutz oder Gefahr. Sie haben schleimige Antennen. Sie sprechen mit dem Weltall und den Freunden«, heißt es im Vorwort des von Enis Maci herausgegebenen Sammelbands zur Ausstellung von Rosemary Mayer im Münchner Lenbachhaus. Auf einem solchen Magic Carpet will ich liegen, geschützt und gewappnet, mit ausgestreckten Fühlern, als »Übung für den Ernstfall, eine Übung für jetzt« (Heike Geißler).