Mit dem Projekt »Feminismen: Wie wir wurden, wie wir leben, was wir sind« von Thomas Meinecke und Antje Rávic Strubel setzen Logbuch Suhrkamp und S. Fischer Hundertvierzehn ihren im vergangenen Jahr begonnenen Austausch fort. Am 17. Juni erschienen die beiden Eröffnungsessays Wie ich Feminist wurde von Thomas Meinecke und Hart am Wind von Antje Rávic Strubel. Am Montag folgte ein Text von Jennifer Clement, und am 25. Juni fand ein Live-Chat statt. Es diskutierten Jörg Albrecht, Paul Brodowsky, Olga Grjasnowa und Senthuran Varatharajah. Das Projekt wird in den nächsten Monaten mit Beiträgen u. a. von Rosa Liksom, Annika Reich & Katharina Grosse, Isabel Fargo Cole, Inga Humpe, Marion Detjen, Rachel Cusk und Christina von Braun fortgesetzt.
Senthuran Varatharajah:
guten morgen, wollen wir beginnen?
Olga Grjasnowa:
guten morgen
Senthuran Varatharajah:
hast du den text Für eine radikale Einbeziehung der Männer von jennifer clement gelesen?
Olga Grjasnowa:
ehrlich gesagt nein, aber du bestimmt, nicht?
Senthuran Varatharajah:
du findest den text hier auf der seite von logbuch suhrkamp. ich war etwas irritiert, als ich den text gelesen habe, vor allem über dieses argument:
»Heute braucht der Feminismus die radikale Einbeziehung von Männern, die für Frauen eintreten, sie verteidigen und sie schützen. Männern muss bewusst werden, dass jede Frau die eigene Mutter, Schwester oder Tochter sein könnte. Mein Vater hat immer gesagt, er sei am Tag meiner Geburt Feminist geworden. Er hat verstanden, dass allein schon mein Geschlecht Gerechtigkeit und Freiheit widerspricht.«
Senthuran Varatharajah:
verwundert war ich u.a. über folgendes: dass, laut dieser passage, der wert einer frau – im grunde genommen – abhängig von der beziehung zu einem mann ist, sie ihre würde von diesem verhältnis prinzipiell empfängt, vor allem, wenn es sich um ein verwandtschaftliches handelt; die fremde frau muss als die (mögliche) eigene erscheinen, als mutter, schwester oder tochter (clement sprach nicht von partnerin oder freundin), erst in die blutsverwandtschaft eingeordnet sein, um als jemand wahrgenommen werden zu können, der der männlichen solidarität würdig ist.
Olga Grjasnowa:
ich glaube, es ist anders gemeint – meiner Meinung nach geht es nicht um eine (welche auch immer) Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann, sondern eher um die Agitation
Olga Grjasnowa:
Würdest du dich als Feminist bezeichnen?
Senthuran Varatharajah:
es ist sicherlich anders gemeint gewesen, aber es bedeutet dennoch genau dies (der text bietet viel anlass zur verwunderung, um das mindeste zu sagen). in den usa ist dieses argument, wenn überhaupt von einem solchen gesprochen werden kann, recht verbreitet. We know our economy is stronger when our wives, mothers, and daughters can live their lives free from discrimination in the workplace and free from the fear of domestic violence. , sagte etwa obama 2013, was in dieselbe richtung geht; nach vergewaltigungsfällen ist oft folgender satz zu lesen: Imagine if she was your sister, or your daughter, or your wife. Imagine how badly you would feel if this happened to a woman that you cared about.
Senthuran Varatharajah:
ja, unbedingt. du?
Olga Grjasnowa:
Definitiv!
Paul Brodowsky:
Ich schalte mich mal dazu, Olga, Senthuran, hallo!
Ich verstehe die oben zitierte Passage aus dem Clement-Essay als Aufruf, als (rhetorische oder emotional-kognitive) Krücke, um zu mehr Empathie zu gelangen. Die gewissermaßen brennende Frage: »Wie kann man mehr Menschen, und damit auch mehr »Männer« dazu zu bewegen, sich für die Sache des Feminismus zu engagieren?«, bringt Clement dazu, auf diesen etwas groben Keil zurückzugreifen. Und etwas auszusprechen, das – zumindest in so einem Raum wie diesem Chat hier – derartig selbstverständlich ist, dass man gelangweilt auf die Ränder ihrer Formulierungen blickt.
Trotzdem kann ich diese, sagen wir: ur-humanistische Sehnsucht nachvollziehen: sieh doch bitte in den Opfern von Gewalt nicht Namenlose, Ferne, sondern Menschen wie dich, oder Menschen, die dir nahestehen.
Paul Brodowsky:
Wie wohl ich auch, Senthuran, deine Kritik natürlich nachvollziehen kann. »Männern, die für Frauen eintreten, sie verteidigen und sie schützen.« Puh. Das auszusprechen ohne gleichzeitig zu sagen »natürlich neben Frauen, die für Frauen eintreten, sie verteidigen und sie schützen«, oder, noch besser, in umgekehrter Reihenfolge – das stabilisiert alte Rollenmodelle. Deinen Querlink auf das Obama-Zitat finde ich auch erhellend. Auch da die gleiche problematische Dichotomie von weiblich konnotiertem »domestic«-Bereich (Herd/ Friedlichkeit etc.) und der männlich konnotiertem »foreign«-Zone (Waffen/ notwenige Gewalt etc.)
Senthuran Varatharajah:
hallo Paul, ich glaube, in dieser argumentation liegt gerade das problem begründet, weil sie nämlich empathie alleine dann für möglich hält, wenn eine ähnlichkeit gegeben ist, hier: mit personen aus dem unmittelbaren familiären umfeld. statt, wie man auf englisch sagen würde (ich bin vor allem mit dem englischsprachigen feminismusdiskurs vertraut, das vielleicht als erklärung) she’s someone’s sister / mother / daughter / wife müsste es genügen, zu wissen: she’s someone .
Senthuran Varatharajah:
Feminismus enthält folgende Gleichung: Männer, und Frauen, die Frauen wirklich lieben, sind Feministen.
das ist der letzte satz aus dem erwähnten text. was sagt ihr dazu?
Paul Brodowsky:
Ja, ich stimme dir natürlich zu.
Paul Brodowsky:
Auch der Satz ist sehr seltsam unbalanciert. Und Frauen werden gewissermaßen halbseitig zum Objekt.
Paul Brodowsky:
Ich hätte eine Frage an meine Gesprächspartner, brauche dazu aber etwas Anlauf.
Sowohl Meinecke als auch Strubel haben ja autobiografische Splitter in ihre Essays einfließen lassen, um ihr jeweiliges Feminist(in)-Werden zu erzählen und zu unterfüttern.
Ich bin als jüngstes von sieben Kindern aufgewachsen. Ich hatte vier zwischen 5 und 10 Jahre ältere Schwestern und einen, sagen wir: dominanten Vater. Meine Schwestern haben nachdem sie zu Hause ausgezogen waren irgendwann angefangen, Selbstverteidigungskurse für Frauen zu belegen und darüber in einem emphatischen Sinne Zugang zum Feministischen Diskurs gefunden. Auch in Abgrenzung zu dem eher klassischen und (auch darin klassisch) nicht immer ganz gewaltfreien Rollenmodellen, die zu Hause gelebt wurden, war die EMMA, waren Wen-Do, war das teilweise Zu-Eigen-Machen feministischen Denkens für meine Schwestern ein, ich glaube sagen zu können: Erweckungserlebnis. Da die Bindung zu meinen Geschwistern für mich damals (und nicht nur damals) eine sehr große Rolle spielte, bin ich zwischen 8 und 14 Jahren mit feministischen Denken à la EMMA gewissermaßen imprägniert worden.
Ich bin dankbar dafür. Wenngleich ich auch an Punkten in meinem Leben damit zu kämpfen hatte. Nicht nur, dass ich in der Oberstufe, teils auch im Studium in Hildesheim, von vielen Mitschülern/Kommilitonen für schwul gehalten wurde, was okay gewesen wäre, wenn es nicht zugleich latent negativ konnotiert gewesen wäre. Hinzu kam, dass ich mich selbst in einem erotischen Sinn viel stärker zu Frauen als zu Männern hingezogen fühlte. Zugleich hatte ich aber häufig das Gefühl, für die Mitschülerinnen/ Kommilitoninnen als Partner oder auch nur jemand mit dem man auf einer Party anfangen könnte loszuküssen nicht in Frage zu kommen, weil ich mich nicht eindeutig genug »heteromännlich« verhielt. Vielleicht war ich für diese Personen aus anderen Gründen schlicht nicht attraktiv, aber damals kam es mir so vor, dass das der Grund sei, und es wurde mir auch teilweise mehr oder weniger direkt so gesagt.
Was ich sagen will ist dies: Ich hatte Schwierigkeiten, »Männlichkeit« zu performen und gleichzeitig das Gefühl, diese Performance liefern zu sollen.
Daran schließt sich die Frage an: Kann man Momente von »Männlichkeits«-Performance reappropriieren? Also neben den Praktiken die Rávic Strubel und Meinecke beschreiben – das subversive Unterwandern von eigentlich verworfenen Terminologien und Strategien wie etwa „weibliches Schreiben“ und der Bindung dieser Schreibstrategien an den »Körper« (nach Cixous) – kann man neben diesen Praktiken als Umkehrung oder gewissermaßen spiegelbildlich auch (wieder) »Männlichkeits«-Performance tun, und zugleich subversiv werden lassen? Welche Brüche muss man dann markieren? Oder ist das insgesamt problematisch und verwerflich?
Senthuran Varatharajah:
zudem reproduziert dieser satz eine zweigeschlechtlichkeit, die der feminismus gerade infrage stellt; auch, und das wird in diesen zusammenhängen oft vergessen: ein konsequenter feminismus liefe unweigerlich zugleich auf die, ich verwende diesen begriff: befreiung des mannes hinaus, der anders, selbstverständlich, aber dennoch auch unter dem patriarchat leidet.
Paul Brodowsky:
Vielleicht noch gleich hinterhergeschickt: Ich meine damit keine anti-feministische Männlichkeit wie sie Ralf Bönt gelegentlich propagiert. Kein Zurück zu Nina Pauers in der ZEIT formulierten Idealbild des »echten Mannes«, der weiß was er will, und sich das auch »nimmt«. Brrr. Sondern Performance natürlich nur im Rahmen einer hybriden Identität, die Brüche, Umkehrungen, Ironisierungen einschließt. Aber eben die Markierung/ das Benutzen von »Männlichkeits«-Momenten nicht ausschließt.
Paul Brodowsky:
Senthuran, klassisch asynchrone Chatroom-Kommunikation, in die wir beide da verfallen sind. Sorry for that. Ich muss mal eben die Kinder von der Kita abholen. Bin um ca. 17.15h wieder da.
Olga Grjasnowa:
Eine Offenbarung was die Konstruktion von Männlichkeit angeht, war für mich nicht nur die Lektüre von Judith Butler, sondern auch die von Karl Ove Knausgards Roman »Lieben« – in dem der Erzähler, Karl Ove Knausgard, seine Männlichkeit für die Kindererziehung geopfert sieht.
Olga Grjasnowa:
Ich selber habe große Schwierigkeiten mit dem Begriff »weibliches Schreiben« – ich glaube nicht an seine Existenz und würde gerne das Essay von Antje Rávic Strubel verweisen. Weibliches Schreiben ist meiner Meinung nach vor allem ein Aspekt der Rezeption: »Wie unlösbar die Form der short-story ans weiße männliche Autor-Ich gebunden ist, wurde erst Ende der 1990er Jahre wieder schön augenfällig, als Autorinnen, die mit der kurzen Textform Erfolg hatten, als Fräuleinwunder bestaunt – und diffamiert – wurden. Versuchen sie sich daran, wird gern die Abweichung oder das quasi übernatürliche und befristete Wunder festgestellt. Ihre Geschichten werden kaum als Ausdruck einer Geisteshaltung oder Weltsicht gelesen, sondern als Ausdruck der Lebenswelt der Verfasser. Mädchen in Betriebnahme. Damit wird dem Werk eine biografische Zeitlichkeit eingewebt, die ein Verfallsdatum mit sich bringt, was bei Texten, die fürs Überpersönliche, Allgemeingültige stehen, nicht der Fall ist. Letztere finden wie von selbst Eingang in die literaturgeschichtliche Chronologie, ersteren dagegen steht die biografische Zeitlichkeit im Weg; auch ein Grund, warum Autorinnen als Einzelne mit einzelnen Büchern zwar Erfolg haben können, aber immer noch schwer Eingang finden ins kollektive literarische Gedächtnis.« Ich fürchte nur, dass die Praxis der Ausrufung des »weibliches Schreiben« noch lange nicht verworfen wurde – zumindest wird immer wieder dazu gratuliert, ich würde wie ein Mann schreiben – für einige ein sehr wertvolles Kompliment und Bücher von Autorinnen werden, wie es Antje Rávic Strubel aufzeigt, vornehmlich autobiografisch rezipiert. Auch beschäftigen sich viele Rezensionen stets zuerst mit dem Aussehen der Autorin, ihrer Kleidung, ihrem Gestus und erst dann mit dem von ihr geschriebenen Buch.
Jörg Albrecht:
Ich finde mich hier in einer typischen Situation wieder, in die man sich als Bio- bzw. Cis-Mann nicht und oft gestellt sieht: Ich komme viel zu spät, muss mich aber jetzt mit einer Position einmischen & diese – damit sie überhaupt da ist – erst einmal relativ unverrückbar hier hinstellen. Irgendwie erwartet man das nämlich von einem Bio-Mann doch viel mehr als von Bio-Frauen. Erwartet man es auch von Nicht-Bio-Männern? Jedenfalls bin ich jetzt erst hier, da die Technik versagte & mein Laptop nun im Reparaturservice ist & ich auf einem fremden Laptop schreibe. Diese Situation hat mich heute bisher ziemlich unsouverän aussehen lassen. Aber warum sind Souveränität und Männlichkeit überhaupt gekoppelt? Oder: Sind sie das überhaupt noch? Entschuldigt, denn wir wollen hier über Feminismen sprechen, ich fange mit Männlichkeit an, aber beide gehören ja nun mal zusammen. Welche Art von Männlichkeit bräuchte es eigentlich, um das feministische Projekt [oder auch hier: nur EIN feministisches Projekt?] weiterzutragen, als es bisher getragen werden konnte?
Jörg Albrecht:
Noch schlimmer: Ich möchte über Feminismus sprechen und merke, es kommt gerade nichts zurück. Aber nur weil ich zu spät bin, kann doch das Gespräch über den Feminismus nicht schon zu Ende sein!
Paul Brodowsky:
Hallo Jörg,
genau das würde mich auch interessieren. Ich habe oben ja eine etwas ähnliche Frage gestellt.
Paul Brodowsky:
Vielleicht können wir uns auf ein paar Begriffe einigen, die in dem Zusammenhang interessant sind: »Bruch« / »Brüchigkeit« z.B.
Jörg Albrecht:
Genau, daher stelle ich Deine Frage noch einmal anders. [Ich erspare mir hier den Zwinkersmiley.] Steckt dahinter nicht auch die Frage, inwiefern Männlichkeit mit Macht bzw. der Performance von Macht gekoppelt ist, Weiblichkeit aber nicht? Oder wird Weiblichkeit immer als fehlgeschlagene/fehlschlagende Performance von Macht angesehen? Am Wochenende, in einem Taxi mit vier schwulen Männern sitzen, fiel auf jeden Fall wieder einmal der Satz: »Frauen in Führungspositionen!«, der eine Anekdote abschließen sollte, in der eine Chefin eben nicht genügend sogenannte Führungsqualitäten gezeigt hatte. Ich will hier aber auch nicht unbedingt über Führungsqualitäten sprechen, sondern – vielleicht genau wie Du, Paul – über die Qualitäten, mit denen man performt [hier wurde gerade autocorrected zu: verformt], meinetwegen auch, wie man eine Performance führt.
Paul Brodowsky:
Ironie. Ironisches Selbstverhältnis.
Jörg Albrecht:
Aber ist Ironie nicht irgendwie auch nicht mehr genug?
Paul Brodowsky:
Richtig. Aber trotzdem sine qua non. Oder?
Paul Brodowsky:
Also Gleichzeitigkeit von Ironie und Anliegen.
Jörg Albrecht:
Also in etwa das, was José Esteban Muñoz mit disidentification bezeichnet? Ein Modus, in dem man sich mit etwas identifiziert und sich zugleich davon distanziert, eben nicht im Sinne von schwächerem Anliegen, sondern davon, daß man um die Relativität des Anliegens weiß?
Paul Brodowsky:
Will sagen: die ernsthaftigkeit des Projekts muss dahinter immer aufscheinen.
Jörg Albrecht:
Dennoch sehe ich da Probleme: Wenn das Anliegen dahinter aufscheint, aber eben vielleicht nicht genug für alle. Wenn also irgendjemand den Bruch nicht sieht. Und wie verhält man sich dann, wenn der Bruch übersehen wird? Andersrum gefragt: Funktioniert diese Art der Brüchigkeit nur, wenn alle anderen sie auch praktizieren, also in einem relativ homogenen Gefüge?
Paul Brodowsky:
Habe Muñoz nicht gelesen, aber so in etwa, ja. Ich dachte eher an Konzepte von Metamodernism wie sie Robin van den Akker und Timotheus Vermeulen postulieren:
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Paul Brodowsky:
Klar. Ironie ist immer auch gefährlich, in dem Sinne das es immer auch das ironisierte ausspricht und damit affirmiert.
Paul Brodowsky:
Demnach: Funktioniert nur »in relativ homogenen Gefüge« – ja.
Jörg Albrecht:
Also dann eher Neo Sincerity? Ich frage mich eben grundsätzlich nach diesem Verhältnis von Leichtigkeit und Ernst, natürlich auch in der Kunst. Aber vielleicht sprechen wir ja eben auch gar nicht nur von einer Brüchigkeit als Ironisierung.
Paul Brodowsky:
Genau. Ironisierung wäre für mich eine Spielart von Brüchigkeit. Aber sicherlich nicht die einzige.
Paul Brodowsky:
New Sincerety? Nicht umsonst fiel vorhin schon Knausgard als Referenz. Wobei ich Knausgard auch nicht unproblematisch sehe.
Paul Brodowsky:
Also dessen Selbststilisierung als lumber-sexual Super-Daddy.
Jörg Albrecht:
Aber vielleicht geht es auch weder um heiligen Ernst noch heilige Ironie. Ein Aspekt einer solch männlichen Performance, die sich Brüchigkeit erlaubt, wäre ja vielleicht, dass es eben keine Angst vor Mangel gibt. Und keine Angst vor Mangel zu haben, das ist für mich zum Beispiel ein feministische Perspektive.
Paul Brodowsky:
Wobei ich gleichzeitig schon fasziniert bin von seinen Büchern.
Paul Brodowsky:
Mangel – oder Mangelhaftigkeit?
Jörg Albrecht:
Keine Angst vor der Möglichkeit, als Mangel wahrgenommen zu werden – so vielleicht.
Paul Brodowsky:
Ja, Zustimmung. Das muss man aushalten und dann ist es im besten Falle – »befreiend«. Oder man kommt an einen anderen, sagen wir freieren Ort.
Paul Brodowsky:
Um Olga wieder einzubinden: Wenn ich Rávic Strubel richtig verstanden habe, ging es ihr darum, die mangelhafte Zuschreibung die dem Begriff »weibliches Schreiben« innewohnt sozusagen von innen aus umzudeuten. Die Problematik dieser Zuschreibungen benennt sie selbst ja durchaus – u. a. in der Passage, die du zitierst.
Noch deutlicher wird das in dem Gespräch, das die beiden geführt haben, wenn Meinecke davon Spricht für sein eigenes Schreiben »weiblichkeit« als positives attribut geradezu anzustreben. Eben aus einer Position heraus, der erstmal cis-Männlichkeit oder bio-Männlichkeit zugeschrieben wird. Das ist für mich schon schlüssig. Und im zweiten Schritt dann zu sagen: ich will als Frau ebenso diesen Begriff und diese Schreibpraxis reclaimen finde ich auch sehr okay.
Paul Brodowsky:
Ich werfe mal noch einen Begriff in den Raum: Die Fähigkeit, Ambivalenz auszuhalten.
Jörg Albrecht:
Diese Fähigkeit wäre für mich auch mit der fehlenden Angst davor verbunden, als Mangel wahrgenommen zu werden.
Jörg Albrecht:
So problematisch das weibliche Schreiben auch sein mag, so will ich doch drauf hinweisen, dass Hélène Cixous z.B. in Le Rice de la Méduse [1975] einen durchaus komplexen Begriff entwirft, vielleicht nicht mal, durch das, was sie aussagen will, sondern durch das, wie sie es sagt. Auch hier viele Brüche. Und die Ahnung, dass es eben zu diesem Zeitpunkt erst einmal darum gehen musste, auch Texte zu erfinden, die WEIBLICH sein konnten. Ich würde von mir selbst nicht sagen, dass ich weibliche Texte schreibe oder schreiben will, da das progressive Moment auch innerhalb des Feminismus der ist, in dem es nicht mehr um da eindeutige Geschlecht geht. [Hier füge ich später auch noch Autobiographisches ein: ein andauernder, seit fünfzehn Jahren mit meiner Mutter geführter Dialog darüber, was Geschlecht eigentlich heißt.]
Paul Brodowsky:
Für mein Schreiben war das bislang keine relevante Kategorie. Wenn dann nur das Vermeidenwollen einer heteromännlichen Perspektive.
Jörg Albrecht geboren 1981 in Bonn, aufgewachsen in Dortmund, lebt in Berlin. Er studierte Komparatistik, Germanistik und Geschichte in Bochum und Wien und promovierte in Komparatistik über die Performanz von Abbrüchen. Im Wallstein Verlag erschienen neben seiner Dissertation vier Romane, zuletzt Anarchie in Ruhrstadt (2014). Seine Texte hat er in intermedialen Formaten immer wieder erweitert, u. a. zusammen mit seinem Theaterkollektiv copy & waste.
Paul Brodowsky wurde 1980 in Kiel geboren. 2002 erschien Milch Holz Katzen, 2007 Die blinde Fotografin. Neben erzählender Prosa und (gelegentlichen) Essays schreibt Brodowsky vorwiegend Theaterstücke; zu seinen wichtigsten Bühnenarbeiten gehören Gleis 11 (gemeinsam mit Christine Umpfenbach, UA Münchner Kammerspiele 2010), Regen in Neukölln (UA Schaubühne am Lehniner Platz 2012) und Intensivtäter (UA Theater Freiburg 2014). In der Spielzeit 2012/13 war er Hausautor am Theater Freiburg. Seit Herbst 2013 lebt er in Berlin; seit dem Wintersemester 2013/14 hat er eine Professur für Szenisches Schreiben an der dortigen Universität der Künste.
Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku geboren. 2012 veröffentlichte sie ihren vielbeachteten Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt, den die Regisseurin Yael Ronen 2013 für die Bühne adaptierte. Der Roman wurde mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und Anna Seghers-Preis ausgezeichnet und ist in dreizehn Sprachen übersetzt. Ihr zweiter Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe erschien 2014 im Hanser Verlag.
Senthuran Varatharajah, geboren 1984, studierte Philosophie, ev. Theologie und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. 2014 erhielt er das Aufenthaltsstipendium der Stiftung Künstlerdorf Schöppingen, das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste sowie den 3Sat-Preis während der 38. Tage der deutschsprachigen Literatur. Im selben Jahr war er Teilnehmer der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Sein Debütroman erscheint im Frühjahr 2016 bei S. Fischer.
Illustration auf der Startseite: Katharina Schmidt