Für eine Rezension von Die Unverhofften hat Frank Willmann ein Vorgespräch mit Christoph Nußbaumeder geführt, das nun hier im Logbuch Suhrkamp erscheint.
Frank Willmann: Wie lange hast du an Die Unverhofften, deinem ersten Roman, geschrieben?
Christoph Nußbaumeder: Ich habe 2016 damit begonnen, hatte aber zunächst noch andere Verpflichtungen zu erfüllen. Alles in allem, würde ich schätzen, war ich mit dem Schreiben des Romans drei Jahre lang beschäftigt, in der Zeit aber nahezu täglich.
Hattest du die Geschichte im Kopf schon fertig, oder gab es für die Figuren noch Handlungsspielraum?
Vor über zehn Jahren habe ich ein Stück mit dem Titel Eisenstein geschrieben (UA: Schauspielhaus Bochum, 2010). Dieses Drama, das den Zeitraum 1945 bis 2008 umspannt, diente zunächst als eine Art Fahrplan für den Roman. Das Stück verhält sich zum Buch ungefähr so wie eine Skizze zum Gemälde, gleichwohl ist der Roman keine Nacherzählung des Stücks. In ihm gibt es neue Figuren und somit neue Konstellationen, wodurch die Fabel einen zum Teil völlig anderen Spin kriegt, auch der Handlungsrahmen ist wesentlich weiter gefasst und erstreckt sich jetzt von 1899 bis 2019. Die entstandene Prosa hat sich ihren ganz und gar eigenen Weg durchs Dickicht der Geschichte geschlagen – mit für mich unvorhergesehenen Wendungen, die erst beim Schreiben passiert sind.
Was war deine Motivation, dich noch einmal an den Stoff zu setzen?
Es gab nicht die eine Motivation, aber ich wollte mit Sicherheit einen langen Atem fassen, um eine ausgreifende Erzählung über Deutschland zu schreiben. Und dafür schien mir eben meine vorhandene »Skizze« brauchbar. Ich wollte über die Verhärtungen und Zerstörungen schreiben, die Geschichte sowie Ideologien im zwischenmenschlichen Bereich anrichten. Über die schier zwanghafte Fixierung auf wirtschaftliche Dominanz, über die Auswirkungen der industriellen Potenz, die Deutschland am Laufen hält – ob vor oder nach den Kriegen, ob in der Markt- oder Planwirtschaft. Diesen Komplex wollte ich anhand einer großen Fabel ausleuchten. Zumindest stand diese Suchbewegung am Anfang, gefunden habe ich: das Ende der Industrie, wie wir sie kennen.
Dein Buch ist auch eine deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. War das von Anbeginn dein Ziel, oder hat sich das im Laufe der Zeit entwickelt?
Die Absicht hatte ich tatsächlich von Beginn an. Ich hatte vor, ökonomische Entwicklungen in die Handlung mit einzuweben, einschließlich der Verteilungskämpfe und Teilhabebemühungen. Und das eben anhand der Figuren, die für ihre Interessen einstehen. 120 Jahre sind ein Zeitraum, den man als Mensch überblicken kann. Es beginnt ja mit Georgs Großmutter als junger Frau und endet mit ihm als altem Mann.
Gibt es für Georg ein reales Vorbild?
Für den Unternehmer Georg gibt es Anleihen aus mehreren realen Biographien, vor allem in Hinblick auf seinen äußeren Karriereweg, den ich versucht habe, relativ präzise zu schildern. Es wäre aber irreführend anzunehmen, hinter Georg Schatzschneider stecke die Person XY. Die Figur ist fiktiv, die Handlung ist im originären Sinne Dichtung, dennoch repräsentiert Georg eine bundesdeutsche Generation von Unternehmern, die im Wortsinn mit eigener Hände Arbeit Konzerne aufgebaut hat. Eine Wertschöpfung in der Realwirtschaft, mit dem Gründerunternehmer als Arbeiter Nummer eins. Die Kehrseite des Ehrgeizes oder des wirtschaftlichen Erfolgs bleibt aber nicht aus, so wie es eben keinen Gewinn ohne Verlust gibt.
Welche Bücher/Texte hast du für das Romanprojekt gelesen? Wo warst du zu Recherchezwecken unterwegs?
Puh, ich weiß nicht, wo ich da anfangen soll … Hilfreich waren in jedem Fall regionale Geschichtsbücher und Chroniken, eher randständige Publikationen. Beispielsweise habe ich eine Historikerin ausfindig gemacht, die mir ihre Dissertation geschickt hat, Streiks in Bayern (1889-1914), oder ich bin auf eine Doktorarbeit aus dem Jahr 1910 gestoßen, welche die Spiegelglasindustrie zum Thema hat – das waren kleine Perlen, über die ich mich riesig gefreut habe. Die großen sozio-ökonomischen Entwicklungsbögen habe ich teilweise bei Fernand Braudel nachgeschlagen, mitunter auch bei Thomas Piketty, aber auch bei Leuten wie Philip Mirowski, Lutz Raphael oder Heiner Flassbeck. Das sind nur ein paar Namen, die mir gerade einfallen, und ich will auch nicht behaupten, deren jeweilige Werke durchdrungen zu haben, es waren eher Orientierungshilfen. Es ist ja kein Sachbuch, und ich bin kein Theorieproduzent, viel entscheidender war die Übertragung ins Sinnliche, also die Erkenntnisse in Erfahrung zu tauchen. Ich war einige Male im Bayerischen Wald, habe die Landschaft auf mich wirken lassen, habe alte Glashütten besucht, auch ein Sägewerk gefunden, das noch fast so wirtschaftet wie in den 60er Jahren. Die Arbeit in der Landwirtschaft, auf Baustellen oder am Fließband in der Fabrik kenne ich aus eigener Erfahrung. Und die Beschreibung von Arbeit war mir beispielsweise nicht weniger wichtig als die Schilderung von seelischen Erschütterungen.
Die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe sind, neben der Geschichte der BRD, auch die großen Themen von Rainer Werner Fassbinder, der im Buch erwähnt wird. Ist er für dich ein Vater im Geiste?
Fassbinders Erwähnung ist sicherlich oder in erster Linie als eine Art Hommage zu verstehen. Als eine Referenz an sein Werk und somit auch an die von dir angesprochenen Themen, an denen er sich sein Leben lang abgearbeitet hat. Gleichzeitig fügt er sich aber auch ein in die pulsierende Zeit und korrespondiert somit prächtig mit »meinen« Protagonisten, vor allem mit Hans, aber auch mit Georg. Arbeit als absoluten Lebensinhalt zu sehen, dem schöpferischen Impuls mitunter völlig rücksichtslos nachzugehen. In seinem Produktionsfuror war Fassbinder ein wandelnder Hochleistungsbetrieb, ohne Endlichkeit im Rücken, bis hin zur Selbstzerstörung. Früher fand ich das unglaublich faszinierend, heute denke ich ambivalenter darüber.
Warum bist du vom Drama zum Roman gewechselt?
Ich habe das Theaterstückeschreiben einige Jahre lang gerne gemacht, hab viel dabei gelernt und auch ausschließlich davon gelebt, dennoch habe ich mich nie als reinen Dramatiker gesehen, als jemanden, der das allein bis zum Ende seiner Tage machen will. Ich habe auch gemerkt, dass meine Geschichten mehr Raum einfordern. Eigentlich wollte ich schon viel früher einen Roman geschrieben haben, aber ich hatte, glaube ich, nicht die Geduld, auch nicht den passenden Stoff. Zudem musste ich mir die Schreibzeit für einen Roman erst einmal organisieren.
Bist du ein Moralist? Moralistik ist eine philosophische Literaturgattung, deren Vertreter die Sitten und Handlungsweisen ihrer Mitmenschen beobachten, beschreiben und deuten.
Ich glaube, mit Aristoteles gesprochen, dass der ethische Bereich gewissermaßen immer das Material von Dichtung oder Fiktion ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Handlung ethische Zwecke verfolgen sollte, im Sinne von »den Sieg des Gerechten und den Untergang des Bösen«. Es wäre die reinste Gesinnungsbarbarei. An gesellschaftlichen Tabus zu rütteln oder an moralischen Wertevorstellungen zu kratzen ist jedoch der Humus guter Geschichten. Als Erzähler werde ich aber einen Teufel tun, zu richten. Interessant wird es immer erst, wenn es keine Eindeutigkeit im Urteil gibt.
Warum hast du dich für den Titel Die Unverhofften entschieden?
Weil ich mich trotz allem für den Fokus auf die Menschen entschieden habe und nicht für eine programmatische Idee. Durch diesen Titel bleibt die Fabel bei den Figuren. Ich hatte erst andere Überlegungen, Titel mit einer materiellen Metaphorik, nüchterner und kühler. Für mich fühlte sich das aber nicht richtig an. Das Buch beschreibt zwar das Ende eines ökonomischen und auch gesellschaftlichen Zyklus, es ist aber nicht die absolute Lesart. Ich denke, jeder Mensch ist erlösungsbedürftig, und letzten Endes hat sich diese Grundhaltung bei mir durchgesetzt.