Manchmal kann sich der hinausgeschobene Erscheinungstermin eines Buches als vorteilhaft erweisen. Als Beleg für diese Leser, Buchhändler und Verlagsmitarbeiter gleichermaßen provozierende These mag Band 21 der Werke von Thomas Bernhard gelten: Er versammelt sämtliche veröffentlichten oder zur Veröffentlichung vorgesehenen Gedichte. Infolge der erst vor kurzem einsetzenden, detaillierten Beschäftigung mit den Mondorfer Dichtertagen konnte der Band noch kurz vor Drucklegung durch drei bislang unbekannte Gedichte erweitert werden. Drei Gedichte, werden die verbeamteten oder als Staatsbedienstete besoldeten Experten höhnen – und damit soll der verzögerte Erscheinungstermin von Band 21 begründet werden und das bei einem Autor, der seine Lyrikproduktion nach drei erfolglosen Gedichtbüchern eingestellt hat und der sich selbst darüber hinaus als Gedichteschreiber, um eine Untertreibung zu benutzen, nicht sonderlich schätzte?
Aber die Situation ist kompliziert und bedarf der Erläuterung. Ich fange mit dem Einfachen an: Mondorf-les-Bains liegt im Großherzogtum Luxemburg und war zwischen 1962 und 1974 Schauplatz der Mondorfer Dichtertage, für deren Organisation hauptsächlich Anise Koltz verantwortlich zeichnete, jene 1928 in Luxemburg-Eich geborene »grande dame de la poésie luxembourgeoise«, die Bernhards lyrische Anfänge verfolgte, ihn 1960 um Gedichte bat, die sie in einer Zeitschrift (Jeune poésie Européenne) abdrucken wollte, was jedoch, obwohl ihr Bernhard zwei Gedichte (Wien 1959 und Italien 1960) zusandte, nicht erfolgte (die Zeitschrift wurde eingestellt), woraufhin Anise Koltz Bernhard zu den ersten Mondorfer Dichtertagen einlud, deren schriftliche Resultate 1963 in der Broschüre Der Lyriker und die Gesellschaft erschienen, darunter ein Gedicht Bernhards (Ich bin berühmt auf den berühmten Feldern), woraufhin Bernhard als Hommage an die Ereignisse in Mondorf den Namen Koltz in den 1963 vorgelegten ersten Roman Frost schmuggelte. (Diese Kurzversion der Abläufe verdankt sich vor allem der 2013 publizierten Dissertation von Tim Reuter, »Vaterland, Unsinn«, die nicht nur die beiden Gedichte Bernhards erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machte, sondern die Beziehungen zwischen der Luxemburgerin und dem Österreicher samt Kontext schildert.)
Die recherchierten Fakten waren Anlass und Grundlage für ein Gespräch zwischen Anise Koltz und dem Herausgeber der Gedichte am 26.10.2015 in der Abtei Neumünster in Luxemburg. Unser Gespräch begleitete Germain Wagner mit einer Lesung der drei Gedichte sowie diverser zwischen Anise Koltz und Thomas Bernhard gewechselter Briefe und einiger Passagen aus Frost.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Die neunzigminütige Veranstaltung in Luxemburg förderte Wichtiges zu Tage, was an dieser Stelle stichwortartig angezeigt sei: Th. B. dementierte gegenüber A. K. nie seinen Status als Lyriker – A. K. bestärkte Th. B. entscheidend in seiner Selbstachtung als Autor – A. K. sandte Th. B. eine Skizze seines Charakters, die Peter Fabjan für die gelungenste, je niedergeschriebene Analyse hält und die Th. B. mit Stillschweigen überging – A. K. erkannte unter den Göttern der österreichischen Literatur von H. C. Artmann über Peter Handke, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker bis zu Elfriede Jelinek nur Th. B. an – A. K. litt nach den drei komödiantischen Auftritten von Th. B. in Mondorf (neben 1962 fanden die 1966 und 1968 statt) längere Zeit unter Lachmuskelkater. Damit ist das Fazit der Veranstaltung unumgänglich: Anise Koltz, ihre Persönlichkeit wie ihre Mondorfer Dichtertage, haben Thomas Bernhards Schreiben und Leben in unumkehrbare Bahnen gelenkt – und der Briefwechsel zwischen beiden samt Anlagen wird 2016 erscheinen.