Meine sehr geehrten Damen und Herren,
am 17. Mai 1975 predigte der Präsident (Kurt Beck) bei der Uraufführung des gleichnamigen Stücks von Thomas Bernhard auf dieser Bühne hier der Schauspieler-Geliebten (Johanna Matz) seine Lebensweisheiten:
»Das Talent
oder gar das Genie
sei es ein politisches oder ein künstlerisches
hat immer die ganze Welt gegen sich
und es handelt immer gegen alle Vernunft
es hört was gesagt wird
aber es tut etwas anderes
es hört
und es sieht
und es geht immer
in die andere Richtung«
Bei einem Genie im Range Thomas Bernhards ist allergrößte Vorsicht geboten: Die allgemein gehaltenen, keinen Widerspruch duldenden Aussagen in einer Figurenrede dürfen nicht als Überzeugungen oder Maximen des Autors durchgehen. Gleichwohl – zweites Merkmal des Genies Bernhard – sind Ähnlichkeiten zwischen seinen schriftlich niedergelegten und den Deklamationen des im Stück zur Nebenfigur degradierten Präsidenten unübersehbar: Sich für die andere, die entgegengesetzte Richtung zu entscheiden, wird in der ein Jahr später publizierten und autobiographische Wahrheit behauptenden Erzählung Der Keller zur Grundrichtung seines Kämpfens, an dessen Ende die Rettung in die Kunst steht; und die radikale Auseinandersetzung, der rücksichtslose Angriff auf die Umwelt und die eigene Innenwelt, die polemische Infragestellung aller Begriffe und Unterscheidungen in poetischen, gesellschaftlichen, ideologischen und politischen Angelegenheiten bildet das Kraftzentrum seines Schreibens und Lebens.
Und nun, vierzig Jahre, sechs Monate und elf Tage später, wird in demselben Akademie-Theater der Abschluss der Ausgabe der Werke eben dieses homo robustus, des ewigen Störenfrieds, gewürdigt. Ist Thomas Bernhard, sind seine Werke und deren verstörenden Inhalte damit an einem Endpunkt angelangt, vielleicht sogar an einem Tiefpunkt, bedeutet doch eine Werkausgabe – und das mit finanzieller Unterstützung durch das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur – eine Kanonisierung, wird er auf diese Weise zum Klassiker entschärft, dem in der Gegenwart nur noch durchschlagende Wirkungslosigkeit zukommt? Wird der gegen alles und jeden und sich selbst Unnachsichtige mit den in der Ausgabe vorgenommenen Kommentierungen und Einordnungen um seine Widerständigkeit gebracht? Trägt die Ausgabe dazu bei, das Werk Bernhards unter Absehung all seiner Provokationen auf einen ständiges Lachen versprechenden Konsumartikel zu reduzieren, so dass nur noch fehlt, sein Grab auf dem Grinzinger Friedhof zum Mausoleum umzugestalten?
Derart kulturkritische Besserwissereien übersehen zumeist die notwendigen Anstrengungen bei der Erstellung und Beendigung einer Werkausgabe, die im Falle Bernhards durch die bekannten testamentarischen Verfügungen besonders Gespür erforderten. Also ist anlässlich der Fertigstellung von 23 umfangreichen Bände im Zeitraum zwischen 2003 und 2015, also in dreizehn Jahren, das macht fast zwei Bände pro Jahr, zu danken: An erster Stelle Dr. Peter Fabjan, bei dessen Engagement für seinen Bruder, nicht nur für diese Ausgabe, das altmodische Wort Hingabe an eine zugewiesene und angenommene Aufgabe einmal am rechten Platz ist; zu danken ist den beiden Gesamtherausgebern Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, der allzu früh verstarb: Beide haben die Einzelbände inhaltlich strukturiert, die Bandaufteilung festgelegt, den Editionsplan entworfen und, vor allem, umgesetzt und jene für ihre Arbeit zu begeistern verstanden, die sich schließlich den Zeitplänen und Herstellungsabläufen unterwarfen, also die Bandherausgeber, die, alphabetisch geordnet, da sind: Wolfram Bayer, Raimund Fellinger, Hans Höller, Martin Huber, Bernhard Judex, Renate Langer, Manfred Mittermayer, Wendelin Schmidt-Dengler, Jean-Marie Winkler.
Als Resultat von deren konkreter Arbeit an den Texten, am Aufzeigen von deren Entstehungsbedingung und Publikationsgeschichte, durch das Aufspüren von Verbindungen zwischen einzelnen Büchern und Theaterstücken, durch das Aufdecken von bislang geheimen Korrespondenzen, durch den Aufweis der von Bernhard zur Veröffentlichung vorgesehenen, aber an den Umständen scheiternden Publikationen, durch das Aufzählen der Abhängigkeiten zwischen veröffentlichten und im Nachlass befindlichen Textzeugen präsentiert die Ausgabe, die alle publizierten oder zur Publikation vorgesehenen Texte zugänglich macht, einen Bernhard, an dem sich erst jetzt alle abzuarbeiten, sprich: zu reiben haben; jetzt liegen die Schreibanlässe und Schreibintentionen zutage genauso wie die Ironien und Rollenspiele des Autors, aber, und am wichtigsten, genauso deutlich werden die Grundlagen der Kunst, von jemanden, der sich als jemand definiert, der bloß schreibt: Und jeder kann sich einen eigenen Reim darauf machen oder es zumindest versuchen.
Denn beim Versuchen wird es wohl für alle bleiben müssen: Bernhards Werke werden, in allen Weltteilen, die Leser nicht in Ruhe lassen; aber auch nicht die Editoren, denn, diese Prophezeiung sei gewagt: Wir dokumentieren heute den Abschluss der Ausgabe und müssen uns zugleich bewusst sein, dass sie eventuell durch Ergänzungsbände erweitert werden wird. Und auch über den Gesamtumfang dieses Bandes oder dieser Bände erlaube ich mir eine Prognose: Er wird 576 Seiten betragen, die Differenz zwischen den 9742 Seiten der vorliegenden Ausgabe und den 10324 Seiten, die der Veranstaltung den Titel liehen, und so darauf hinweist: Mit Bernhard wird man nie fertig, mit Bernhard ist man nicht nur nie am Ende, vielmehr hat man mit ihm neu zu beginnen.
Foto auf der Startseite: © Andrej Reiser