Wer wie Uwe Johnson (1934 – 1984) seine schriftstellerische Kraft gewinnt durch die dokumentarisch unterfütterte Erzählung jener Prozesse, in denen die Gesellschaftssysteme den und die Einzelnen prägen, deren Alltag, deren Anpassungen und Oppositionsversuche, der wird nicht anders können, als, wenn sich der Anlass bietet, seine narrativen Maximen auf die eigene Biographie anzuwenden.
Eine Gelegenheit ergab sich, als Heinz Lehmbäcker, ein Freund noch aus Güstrower Oberschulzeiten (1948 – 1952), inzwischen als Wissenschaftsjournalist für das Fernsehen der DDR tätig, ihm zu seinem Geburtstag im Jahr 1981, in diesem Fall der 47. Wiederkehr, gratulierte. Daraufhin verfasste Johnson den zweiseitigen Brief vom 5. August 1981: Und wie fast immer bei ihm, dem auf akkurate Antwort bedachten und die Briefe als Mittel erster Erzählversuche nutzenden Epistelschreiber, entstand dadurch eine kleine Erzählung (vor allem in den beiden ersten Absätzen des Briefs):
Dieser 20. Juli ist mir in einem recht frühen Sommer abhanden gekommen. 1944 war ich in eine »Nationalpolitische Erziehungsanstalt« getan, eine Kaserne von einem Internat, da wurde den halben Tag Sport als Heeresdrill betrieben, auch die Freizeit war der militärischen Erziehung gewidmet, so dass ich zu leiden hatte, Brillenträger schon damals. Am 19. befand die »Stube«, ich hätte ihre Ehre durch mangelhaften Bettenbau geschändet, so dass das Geschenk zum Geburtstag in den frühen Morgenstunden erschien als nächtliche Abreibung, »Heiliger Geist« genannt, und ich am Abend recht erleichtert war über die Nachricht, in Berlin sei die Regierung abgeschafft worden, in deren Sinne Kinder der Massen abgerichtet werden. So fällt mir zum 20. Juli [dem gescheiterten Attentat auf Hitler] immer zuerst ein, und verdrängt das private Datum, dass an diesem Tag etwas zu meinem bürgerlichen Nachteil schief gegangen ist.
Tatsächlich habe ich ihn in diesem Jahr zum ersten Mal zu begehen versucht. Aber in dem Luftkissenfahrzeug zwischen Dover und Frankreich, dieser fliegenden Garage, fiel mir angesichts der vierzig Minuten Reisezeit doch wieder als Hauptsache ein, dass Hitlers »Seelöwe« zu lahm war für diese Strecke, und in Boulogne-sur-Mer sah ich am deutlichsten an der höckerigen Stadt die vielen Eisenbahntunnel, in der Hermann Meier [Hermann Göring, Hitlers Oberbefehlshaber der Luftwaffe] mit seinem Sonderzug sich verkroch, weil er Schiss hatte vor der Royal Air Force, die er längst »am Boden zerschmettert« hatte mit seinem grossen Maul. Nunmehr will ich mich endgültig begeben in die Einsicht, dass mir dieser Tag beschlagnahmt ist.