Am 6. März 1975 überstellt der 58-jährige Peter Weiss eine (unvollständige) Kopie des Romanmanuskripts von Die Ästhetik des Widerstands dem Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main; Ende des Monats, am Ostersonntag, dem 30., beginnt Siegfried Unseld (Jg. 1924), seit 1959 im Hause als alleinverantwortlicher Verleger amtierend, mit der Lektüre. Seinen ersten Eindruck diktiert er für seine Chronik. »Am Vormittag Beginn der Lektüre von Peter Weiss’ autobiographischem Roman Ästhetik des Widerstands. Ich scheitere an dieser zähen Lektüre. Das ist eine Pflichtübung, die Weiss sich auferlegt hat, ich bin hier wirklich skeptisch. Das Gespräch mit Peter Weiss wird für ihn sehr enttäuschend werden.«
Man verabredet ein Treffen zum neuen Buch auf Drängen Peter Weiss’ (der ein möglichst zeitnahes Arbeitsgespräch im Verlag wünscht, ihm liegt an einem Erscheinen des Bandes im Herbst desselben Jahres) für den Zeitraum zwischen dem 22. und dem 25. Mai – der Autor möchte am 25. Mai an den Proben zu seiner Bearbeitung von Franz Kafkas Der Prozess in Bremen teilnehmen, Unseld kommt am 22. Mai aus Stuttgart zurück, wo er die deutsche Erstaufführung von Thomas Bernhards Theaterstück Der Präsident in der Inszenierung von Claus Peymann besucht.
Bei Erklärungen der in der faksimilierten Notiz »Peter Weiss in Frankfurt« sich äußernden heftigen Ablehnung – von Autor wie Privatperson gleichermaßen – des Verfassers des ersten Bandes der Ästhetik des Widerstands ist man auf Mutmaßungen angewiesen: Unseld hatte 1960, als eine seiner ersten selbstständigen Verlegerentscheidungen, im Unterschied zu seinem Vorgänger Peter Suhrkamp das Manuskript Der Schatten des Körpers des Kutschers zur Veröffentlichung angenommen. Im Laufe des Jahres 1971 treten Differenzen zwischen beiden zutage: Eine Publikation von Rekonvaleszenz, obwohl der Band mit Tagebuchaufzeichnungen nach Weiss’ Herzinfarkt am 6. Juni 1970 – einsetzend am 10. August 1970, Schlusspunkt 1. Januar 1971 – in den suhrkamp taschenbüchern für Ende 1971 angekündigt war, kam nicht zustande, und zwar aus (verlags-)politischen Motiven, weniger aus ästhetischen Überlegungen. »Durch das Schreiben dieses Tagebuches rekonvaleszierte gewissermaßen der Schreiber Peter Weiss, d. h., durch das Schreiben des Tagebuches wurde er ermutigt, am [zwischen Oktober und Dezember 1970 entstandenen und September 1971 uraufgeführten Hölderlin-]Stück weiterzuarbeiten.« Das Manuskript von Rekonvaleszenz traf am 20. August 1971 im Verlag ein. Eindeutiges Urteil seitens Unselds: »Ich lese ein Drittel gleich am Abend; das Manuskript scheint mir zu problematisch, weil zu simplifikatorisch.« Und: »Dieses Tagebuch ist ein Tagebuch der Einseitigkeit und des Subjektiven. Das ist sein gutes Recht, aber dieses Tagebuch bietet keine Entwicklung, dieses Tagebuch bietet keine Alternative, dieses Tagebuch bietet keine Durchleuchtung, sondern ist lediglich ein Registrieren und ein Reproduzieren. Die paar privaten ›Szenen‹ sind fast Fremdkörper. Die Träume, die Erlebnisse mit Freundinnen usw. Auch ist dieser Krankheitsprozeß, der mit der vernichtenden Enttäuschung bei der Trotzki-Aufführung begann und über den Herzinfarkt von Weiss führte, nicht stringent dargelegt. Eine Rekonvaleszenz findet im Grunde genommen gar nicht statt. Freilich zeigt das Manuskript natürlich, daß der Schreiber Weiss nicht mehr glaubt, zu den früheren privatistischen Aufzeichnungen zurückkehren zu können, doch er bietet uns nichts überzeugend Neues.« Nach der Stuttgarter Uraufführung des Hölderlin kommt es am 19. September zu einer Unterredung über das Tagebuch, die Unseld so schildert: »Noch einmal Rekapitulation des Stückes und der Inszenierung und der verschiedenen Gespräche, die wir führten. Im Anschluß daran hatte ich mit Weiss eine mehrstündige Diskussion seines Tagebuches Rekonvaleszenz. Meine kritischen Argumente leuchteten ihm ein. Ich bat um eine nochmalige Überarbeitung des Ganzen, um die Einseitigkeiten und Simplifikationen, vor allem die solipsistischen Ich-Identifikationen mit objektiven Vorgängen, zu korrigieren. Ich sagte ihm, daß ich das Ganze als ein Rohmaterial ansähe, auch als eine Art Ventil für seine tägliche Wut, das es ihm eben ermöglichte, das Stück Hölderlin zu schreiben. Peter Weiss zog das Tagebuch Rekonvaleszenz zurück. Vielleicht wird er es in geänderter Form wieder vorlegen.«
Für Unseld war Peter Weiss nach Trotzki im Exil, Rekonvaleszenz und Hölderlin gescheitert mit seinen Versuchen, sich in die Gegenwart durch historische Bezugnahmen einzumischen. Und jetzt kommt dieser selbe Autor daher mit einer völlig neuen Mischung aus Roman und (Wunsch-)Autobiografie.
Am 18. November 1975 hält Unseld, der Band ist im September erschienen, in all seinem Stolz fest: »Die Bestenliste des SWF vom November 1975 führt auf: 1. Enzensberger, Mausoleum. 2. Frisch, Montauk. 4. Weiss, Widerstand. 6. Hans Mayer, Außenseiter. 8. Scholem, Benjamin.«
Nicht nur in den Feuilletons der Tageszeitungen stößt der erste Band auf Zustimmung (auch wenn Verrisse in dem Tenor von Unselds Kritik geschrieben werden), nach und nach setzt sich der Roman vor allem an den Universitäten durch, weshalb Unseld dem Autor am 11. April 1978, anlässlich der Übergabe des Manuskripts zum zweiten Band, ein Exemplar aus den bereits 11.000 gedruckten übergeben kann. (Die Begeisterung, die sich Mitte der siebziger Jahre vor allem unter Studenten herauszukristallisieren begann, steckte zu diesem Termin noch in ihren Anfängen, sie löste nach dem abschließenden dritten Band 1981 eine Welle von Schulungskursen aus, die ihr Pendant nur in den entsprechenden Seminaren zu Beginn der siebziger Jahre zum Studium von Marx’ Das Kapital, Bände 1-3, fand.) Und Unseld war erstaunt auch über die Entdeckungen, die der zweite Band für ihn bereithielt, wie aus einer weiteren Notiz nach seinem Diktat – »Peter Weiss in Frankfurt« vom 11. April 1978 – hervorgeht: »Peter Weiss imaginiert [im zweiten Band] die Aufführung dieses Dramas [Engelbrekt] mit Bertolt Brecht. […] Peter Weiss hat das Stück erfunden. […] Ich las noch in der Nacht weiter im Manuskript. Sehr faszinierend die Übergänge von der Realität in die geschichtliche Imagination.«
Zuerst erschienen in: 5plus – NEUES MAGAZIN NO. 15