Die Paradoxien des Briefschreibers Robert Walser
Oder
Ein langes Einladungsschreiben, das Werk von Robert Walser zu besichtigen
Unter einer meinungsstarken Überschrift eine singuläre Publikation (und Herausgeberleistung) sowie den gleichzeitigen Start einer säkularen Ausgabe im Suhrkamp Verlag anzukündigen, wirft Bedenken auf: Professionalität bei einem Autor, so die mehr oder weniger unumstrittene Meinung der Kollegen, Rezensenten, Leser und Forscher, der sich als (Varianten durchspielender) Prototyp des gesellschaftsunfähigen, vereinsamten und von seiner Umwelt weder verstandenen noch gar geschätzten Dichters zu inszenieren wusste?
Zunächst die Fakten: 951 Korrespondenzstücke präsentieren die Briefe in der Berner Ausgabe der Werke von Robert Walser, mit den ausgewählten einschlägigen Dokumenten in drei Bänden: Gesamtumfang 1500 Seiten. Da auch die Gegenbriefe gedruckt werden, lautet die frohe und nicht in Frage zu stellende Botschaft: Durch diese Ausgabe ist das komplette überlieferte Material, mit dem der Briefschreiber Walser sich befasste, verfügbar. 1975 erschien die erste Brief-Sammlung, herausgegeben von Jörg Schäfer und Robert Mächler, als Band 12/2 im Rahmen des Gesamtwerks, das der Kossodo-Verlag im Programm hatte, die, nach der Übernahme der Rechte durch den Suhrkamp Verlag (1978), mit Ergänzungen 1979 neu aufgelegt wurde. Die Briefe stellen den Auftakt einer auf über dreißig Bände angelegten Werkausgabe. Damit realisiert Siegfried Unseld, posthum zumindest, seine Idealvorstellung des Umgangs mit Autoren.
Um dieses Ziel anzugehen, hatte Unseld 1976, als die Verhandlungen um die Übernahme der Rechte an Walsers Gesamtwerk scheitern konnten, an der University of Austin in Texas, und danach im deutschen Sprachraum (Wolfenbüttel), einen Vortrag unter dem Titel »Robert Walser und seine Verleger« absolviert. Seine These: Die Tatsache, wonach seine Existenz durch Erfolglosigkeit, im Gefolge durch Armut und soziale Abgeschiedenheit charakterisiert sei, was schließlich ein Einstellen der schriftstellerischen Produktion mit etwas mehr als 50 Jahren sowie die Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt in Herisau (Kanton Appenzell) nach sich gezogen habe, sei allein dem Umstand geschuldet, dass Robert Walser keinen Verlag habe finden können, der trotz widriger Umstände seine Bücher unbeirrt gedruckt habe. Im Umkehrschluss will dies sagen: Wenn Walser, und sei es im Nachhinein, über einen Verleger verfügt, der sich der Gesamtproduktion annimmt und alles tut, ihn den Regeln der Kunst entsprechend zu propagieren, besteht erstmals die Aussicht auf Verbreitung der Literatur des Robert Walser (Siegfried Unseld, in: Der Autor und sein Verleger, S. 241-341). Das hat Unseld dann realisiert, und einer der Herausgeber der Briefe schrieb die Geschichte, wie Robert Walser nachträglich zum Hausautor des Suhrkamp Verlags avancierte.
Derselbe Herausgeber hat sich der wissenschaftlichen Klassifizierung und der kontextuellen Einordnung der Briefe angenommen. Ein weiterer Herausgeber der neuen Briefedition hat, vor allem anhand der Briefe, wie anders?, die These Unselds in ihrer Geltung für die deutschen Verleger modifiziert. Der dritte Herausgeber hat sich eingehend dem Kontinuum zwischen Feuilleton und Briefen gewidmet.
Was wäre also von Verlagsseite Neues über Walser und dessen Briefstellerei zu vermelden, zumal Peter Stocker, jetzt sei er beim Namen genannt, konstatiert, »eine Trennung zwischen dem ›Prosastücklingsgeschäft‹ der Werktage und der Sonntagsbeschäftigung des Briefschreibens« sei nicht möglich – das Lob der Briefausgabe müsste also das Lob des Gesamtwerks zu ihrem Gegenstand machen, wofür man, wie jüngst demonstriert, ein von verschiedenen Autoren zu verantwortendes Handbuch benötigte. Selbst für eine Konzentration auf die Analyse eines Einzelbriefes empfiehlt der Entdecker der zunächst fehlenden Briefe zwischen dem Schweizer Huber Verlag und Walser »psychologisches Fachwissen«. »Jedenfalls handelt es sich um ein schwer interpretierbares Gemisch aus gewiefter, geradezu kalter Verhandlungstaktik, Grossmauligkeit, Sprunghaftigkeit, Scheu, Unsicherheit und Unterwürfigkeit; gelegentlich kann sich Walser sogar als erfahrener Geschäftsmann präsentieren, der mit gönnerhaften Ratschlägen zur Stelle ist.«
Robert Walser entpuppt sich gerade durch dieses »Gemisch«, rückt man es in die Perspektive der Verlagskorrespondenzen z. B. aus dem 20. Jahrhundert, als professioneller Autor wie jeder andere – er beherrscht sein Metier beim Umgang mit Verlagen souverän, legt auf diesem Gebiet alle Tugenden erfolgreicher Schriftsteller an den Tag. Dies belegt in aller Deutlichkeit ein Blick z. B. auf Brief 307 (Briefe, Band 1, S. 349f.).
Der Kontext: Nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs wandte sich Walser Anfang 1917 an den Huber Verlag mit einem Veröffentlichungsangebot, denn für den hatte er, als Auftragsarbeit, Der Spaziergang verfasst und sah, wie jeder Autor, die Gelegenheit gekommen, mit der Publikation im selben Haus zu avancieren: Man war auf ihn zugekommen, man wollte etwas von ihm, er hatte nicht als Bittsteller auftreten müssen, befand sich also bei weiteren Manuskriptangeboten in einer günstigen Verhandlungsposition. Jede Verzögerung bei der Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des umfangreichen, danach eingereichten über 400 Seiten starken Manuskriptes (Studien und Novellen lautete der provisorische Titel) setzte den Verleger unter Zugzwang, zumal Walser in einem vorangegangen Brief dem Verlag weit entgegenkommen war, da er bereits eine Umfangskürzung konzediert hatte, um Bedenken gegen die Veröffentlichung eines unverkäufliche Sammelbandes zu zerstreuen. Um ein endgültiges Urteil hinauszuzögern, schlug er Walser eine Begegnung vor, um Details zu besprechen.
Nachdem Huber sich auch zu dem Kürzungsvorschlag nicht definitiv geäußert hatte, blieb Walser, als Profi, keine andere Wahl als eine Terminsetzung in Brief 307. Er verlangte eine endgültige Entscheidung (ein Entgegenkommen in der Terminfrage, nachdem er dem Verlag in Umfangsdingen bereits einmal entgegengekommen war, hätte als implizites Eingeständnis ausgelegt werden können, er verfüge über keine anderweitigen Publikationsmöglichkeiten). Damit stellte er den Verlag vor die Alternative, ihm weiterhin an sich zu binden oder ihn für immer aufzugeben. Um dem Verlag zu suggerieren, ihm entstünden durch den Verzicht auf sein Manuskript Nachteile im Konkurrenzkampf mit anderen Schweizer Verlagen, zitierte er Häuser (deren Leistungen natürlich lobend hervorgehoben wurden), die sich angeblich seiner Buchvorhaben annehmen würden. Zur stärksten Waffe im Gefecht mit dem Verleger griff Walser, indem er dessen verlegerische Kompetenz grundsätzlich in Frage stellte, denn jemand, der »mädchenhaft zarte Ängstlichkeit« an den Tag legt und keine »ruhige, standfeste Zuversicht« aufbringt, ist eine glatte Fehlbesetzung, zumal ihm ein »gutes Buch« angeboten wird – und kein Verleger, der diesen Namen verdient, lässt sich ein gutes Buch jemals entgehen. Eine Entscheidung muss her, damit der Autor nicht weiter vertröstet werden kann. Um erst gar keine Hoffnung auf ein Nachgeben seinerseits zu wecken, sagt er jede persönliche Begegnung in dieser Angelegenheit ab: Walser konnte nicht entgehen, dass man durch ein Treffen die definitive Entscheidung weiter hinauszuzögern versuchte, und das wollte er unter allen Umständen verhindern. (Eine Kategorie wie die der Unhöflichkeit eines solchen Briefs in Anschlag zu bringen, ergibt, wie demonstriert, keinen Sinn.)
Die Ablehnung (Brief 308, Bd. 1, S. 351f.) ihrerseits folgt den Verlagsusancen: Sie wird ausführlich gerechtfertigt und einen Tag später abgeschickt, nennt als Grund die Marktsituation: Warum sollte der Huber Verlag unter großem Aufwand eine Sammelausgabe herausbringen und die besten Stücke anderen überlassen?
Die Geschichte geht weiter wie üblich: Der Autor lässt sich von der negativen Entscheidung des Verlags nicht vom Vorhaben abbringen, ein weiteres Buch bei Huber zu lancieren, und so wird noch im November 1917 Poetenleben gesetzt, korrigiert, gedruckt und ausgeliefert.
Bleibt die Paradoxie: Wenn Robert Walser im Briefwechsel mit den Verlagen ebenso professionell wie jeder andere (mehr oder minder erfolgreiche) Autor agierte, warum reüssierte er (wie z. B. Wolfgang Koeppen, der, obwohl jedermann auf seinen neuen Roman wartete – siehe das Stück mit dem gleichnamigen Titel in Poetenleben –, von Unseld dieses Warten sich honorieren ließ, z. B. Thomas Bernhard, der fast eine Replik auf Walsers Frage, Brief 293, »Wie stellen Sie sich die Existenz eines Dichters eigentlich vor?« in einem Brief an Unseld formulierte: »Und für was für einen jämmerlichen Schreiberling halten Sie mich?«, und seinen Willen nicht nur in der betreffenden Angelegenheit durchsetzte) nicht in der sich selbst als Ziel gesteckten Weise? Oder ist der Erfolg durch sein Management der Zeitungs-Feuilletons doch beträchtlich größer, als gemeinhin angenommen wird? In der geneigten Öffentlichkeit kursieren viele Gerüchte, Meinungen und wissenschaftliche Erkenntnisse als Antworten. Um zum abrupten Schluss zu kommen: Die Lektüre der Werke Robert Walsers wird vielleicht einen Hinweis darauf geben können, auch wenn sein Gebot nicht außer Kraft gesetzt werden sollte: »Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.«