Von seinen Notizbüchern berichtete Peter Handke zum ersten Mal im Jahre 1977. In der »Vornotiz« zu dem im Untertitel als »Journal« ausgewiesenen Buch Das Gewicht der Welt beschrieb er, wie, nach ersten Versuchen, nur solche Wahrnehmungen aufzuzeichnen, die einem spezifischen literarischen Projekt galten, sich die Aufmerksamkeitsrichtung gegen Ende des Jahres 1975 gewandelt habe: »Ich übte mich nun darin, auf alles, was mir zustieß, sofort mit Sprache zu reagieren, und merkte, wie im Moment des Erlebnisses gerade diesen Zeitpunkt lang auch die Sprache sich belebte und mitteilbar wurde.«
Insgesamt fünf Journal-Bände hat Peter Handke zwischen 1977 und 2005 veröffentlicht: Das Gewicht der Welt, Die Geschichte des Bleistifts, Phantasien der Wiederholung, Am Felsfenster, morgens und Gestern unterwegs. Handke weist explizit darauf hin, daß es sich bei den veröffentlichten Büchern keineswegs um die simple Kopie der Notate handelt: das Veröffentlichte entstand durch eine Auswahl aus dem unmittelbar Niedergeschriebenen.
Die seit 2008 einzusehenden Notizhefte (einige Originale befinden sich im Österreichischen Literaturarchiv, Wien, 66 bewahrt das Deutsche Literaturarchiv Marbach – insgesamt 78 aus dem Zeitraum 1971-1990) verdeutlichen den Umfang des Weggelassenen: Ulrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung in Marbach, zählt bei seinem Bestand »mehr als zehntausend mit der Hand beschriebene Seiten«, die an annähernd 5300 Tagen entstanden sind; das Seitenverhältnis zwischen Notizheft und veröffentlichten Journalen schätzt er bei einigen auf 4:1. Ihre materiale Beschaffenheit war durch das vom Reporter Handke verfolgte Ziel vorgegeben – da die Notizen selten am eigenen Schreibtisch, vielmehr im Freien, auf Reisen, während des Gehens oder bei Aufenthalten in Zügen, Bussen, Kirchen, Bars und allen möglichen Lokalitäten erfolgten, mußten sie am Körper getragen werden, in die Hosen-, die Jackett-Innen- oder -Außentasche, in die Brusttasche passen, was bedeutet, daß ihr Format nie größer als DIN A6 war. Bei der Wahl der Blanko-Notizhefte war der Zufall des Vorhandenen maßgeblich: Es finden sich vielfältigste Ausstattungen (das Spektrum schwankt zwischen Lederbänden und Spiralblöcken), die Seiten sind mal liniert, mal blanko, und auch das verwendete Schreibmaterial wechselt zwischen Bleistift, Zeichenstift und Kugelschreiber (in verschiedenen Farben).
Die in diesem Band, der soeben in der Insel-Bücherei erschienen ist, präsentierten 24 aufeinanderfolgenden Seiten aus dem Notizheft des Zeitraums 31. August 1978 bis 18. Oktober 1978 (in der Forschung als Nr. 16 katalogisiert und bisher nur als Kopie verfügbar) verfolgen die Absicht, an einem Exempel zu zeigen, wie Peter Handke mit ihnen gearbeitet hat. Bei der Transkription wurde auf eine diplomatische Umschrift im strengen Sinn verzichtet. Die Einzeleinträge, die nicht immer eindeutig gegeneinander abgrenzbar waren und für deren Bestimmung unterschiedliche Faktoren (Sinnzusammenhang, Schreibgerät) herangezogen wurden, sind durch eine halbe Leerzeile voneinander getrennt. Hinzufügungen stehen in doppelten eckigen Klammern. Die von Peter Handke stammenden Haken markieren Übernahmen der betreffenden Stellen in die erste Niederschrift, auf ihren Nachweis in den unterschiedlichen Bearbeitungsstufen und im veröffentlichten Buch wurde verzichtet. Senkrechte Striche am Rand der Notate wurden nicht wiedergegeben. Doppelte Unterstreichungen, die (teilweise oder vollständige) Einkästelung von Wörtern werden in Form einfacher Unterstreichungen dargestellt. Derartige Hervorhebungen bestätigen erneut die autonome Position der Notizbücher – sie markieren, so Peter Handke in seiner Antwort an den Verfasser auf den Brief vom 21. März 2015, »Betonungen«.
Kann man anhand dieser Einträge eindeutig verfolgen, wie aus Erlebtem und Notiertem das Geschriebene/Veröffentlichte entsteht? Ja und nein.
Ja: Es gibt Passagen in den faksimilierten Seiten, die, mit leichten Änderungen, in die Buchfassung übernommen werden – so auch das abgebildete Beispiel. Die entsprechende Passage liest sich in Langsame Heimkehr (1979, S. 47 f.) wie folgt: »Die ersten Bewegungen waren Dunstschwaden an der Stromoberfläche, nach Osten ziehend. Aus den Löchern in der Lehmböschung flogen ein paar Uferschwalben heraus und kehrten schnell wieder um. Schwarze Köter wühlten im Strandabfall, die sich dann aber als riesige Raben in die Luft hoben und mit schwirrenden Flügeln über dem Mann kreisten; im Abdrehen stießen sie heitere, rufähnliche Schreie aus; einer kam zurück und überflog noch einmal völlig lautlos die Dastehenden, so niedrig, daß sein Flügelschlag wie ein motorbetriebener Riemen ertönte. Die über Nacht angeschwemmten Fische waren fast aufgefressen; von den ausgepickten Augen gab es noch hier und da Abdrücke im weichen Sand. Ein wildernder Hund, der am Ufer entlangstreunte, war silbrig grau und hatte einen von den bläulichen Augen abwärts weißen Kopf: ein richtiges Gesicht. Er riß eine tote Möwe am Boden hin und her und zerknackte sie – der einzige Laut weit und breit – zwischen den seitlichen Zähnen.«
Nein: Erst durch Umstellungen, Weglassen und Hinzufügen des im Notizbuch Festgehaltenen entstehen die einzelnen Sätze und deren Aufeinanderfolge im gedruckten Text, oder, wie Peter Handke als Antwort auf eine Anfrage des Verfassers (21. März 2015) schrieb, die Notate werden »verwendet – verwandelt ins Erzählen, in die Folge, die Erzählung«. Dabei vollzog sich die Transposition vom Notizbuch – allerdings, das macht die entscheidende Differenz der Druckfassung aus, unter Rückgriff auf Erinnerungen/Erfahrungen/Eindrücke, die sich einstellten im »Abenteuer, im Tun/Schreiben« (so der Autor im zitierten Brief ), also während der Niederschrift, sowie unter Rückgriff auf die mit dem Buchprojekt teilweise viele Jahre vorher verbundenen Buch-Phantasien.