Im Zug von Berlin nach Frankfurt am Main las ich am 10. November in Le Monde des Livres, also an einem Freitag, die Besprechung der französischen Übersetzung von Peter Handkes Versuch über den Pilznarren (Übersetzer: Pierre Deshusses), einen Tag nachdem sein neues Buch, Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, in die Buchhandlungen kam. Die Koinzidenz war verlockend, sich über das Verdikt eines Verlagskollegen hinwegzusetzen und das Reisefeuilleton en miniature weiterzutreiben. Der geschätzte Mitstreiter hatte mir erklärt, jeder andere Titel für mein Geschreibsel sei tausendmal sinnvoller, da Aus dem Zug nur verstehen könne, wer um meine Form der Mobilität wisse, und im Übrigen sei das für keinen Menschen von Belang.
Dazu kam noch: Ein Verlagsautor bezichtigte mich, in seiner dezenten Art, des Plagiats der eigenen Kolumne in der Wiener Literaturzeitschrift Volltext und schlug, um das wenigstens sichtbar zu machen, die Umbenennung in Neulich im Zug vor. Kleine Rechtfertigung: Im anstehenden Fall haben Bahnreisen beim Zustandekommen der Obstdiebin eine konstitutive Funktion.
Kurz vor dem letzten Weihnachtsfest beauftragte Peter Handke in Versailles einen Boten damit, das handschriftliche Manuskript seiner Obstdiebin sicher nach Frankfurt zu bringen, um es dann Gudrun Weidner zum Entziffern und Transkribieren weiterzureichen. Handke verfasst bekanntlich alle seine Sachen, Briefe, Reden, Bücher, per Hand und ohne Unterlage, mit dem Vorteil, sich von irgendwelchen Tischen, Fensterbänken und dergleichen unabhängig »draußen«, in der Natur bei seinem Schreiben bewegen zu können. Die Niederschrift seiner literarischen Unternehmen verläuft nach einem nunmehr seit Jahrzehnten in Geltung gesetzten Ritual: Papier weiß, ohne Linien oder Ähnliches, Bleistift, Spitzer, ab und an die einschlägigen Notizbücher; die gut leserliche Schrift ist wie auf einer geraden Schnur aufgereiht, am linken Papierrand steht das Datum auf der Höhe der Zeile, mit der die Niederschrift einsetzt bzw. fortgeführt wird (wodurch die Arbeit am Manuskript der Obstdiebin datierbar ist: 1. August 2016 – 30. November 2016).
Nachdem die mehr als 280 Manuskriptseiten die Zugreise vom Pariser Gare de l’Est nach Frankfurt am Main unbeschadet überstanden hatten, erstellte Gudrun Weidner ein Typoskript, das Gerhard Lenz als Hersteller in eine erste Druckfassung der Obstdiebin umwandelte (entsprechend dem vereinbarten Erscheinungsbild der Seiten: Schrifttyp, Schriftgrad, Kolumnenhöhe und -breite). Anhand dieser Version erfolgten (brieflich übermittelte) Korrekturvorschläge des Lektors (der die Anmerkungen des Korrekturlesens durch Gabriele Bischoff einbezog); daraufhin arbeitete sich Peter Handke Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort durch den ersten Satzlauf, mit Streichungen, Ergänzungen, Umformulierungen. Dieses Dokument stellte die Basis für das weitere Verfahren dar. In der Folge machten sich Peter Handke und Sophie Semin mit dem Zug vom Gare de l’Est nach Frankfurt am Main auf den Weg, um sicherzugehen, dass die Korrekturen den Lektor wohlbehalten erreichten. Der übertrug die Handke’schen Korrekturen in sein Fahnenexemplar (transkribierte längere Passagen in eine eigene Datei), das erneut zum Hersteller wanderte, worauf eine neue Korrekturrunde einsetzte, die Anfang Oktober in die zum Druck freigegebene Datei mündete. Ende Oktober brachten der Lektor (per Bahn) und Jonathan Landgrebe dem Autor eins der zwei existierenden Bindemuster der Obstdiebin nach Chaville.
Beim ersten Aufenthalt in Versailles (Manuskriptübergabe) wie beim zweiten in Chaville (Übergabe des Buches) ereignete sich etwas Erstaunliches: Im Versailler Hotel fragte der an der Rezeption Wache schiebende Mann Handke: »Vous êtes des frères?«, was der Angesprochene verneinte: »C’est mon fils.« Und beim Überreichen des Buches fragte der Wirt des Cafés La Rotonde in Chaville, ob Peter Handke und ich etwa verwandt seien. Ich erinnere mich nicht, was er antwortete. Vermutlich diesmal die Wahrheit.
Damit ist also der wahre Impuls für das zweite Reisefeuilleton benannt: die Eitelkeit des Lektors. Aber es gibt schlimmere Eitelkeiten. – Ach ja: Die Einfache Fahrt ins Landesinnere beginnt ebenfalls mit einer Zugfahrt. Wiederum an einem Freitag macht sich der Erzähler auf den Weg zum Bahnhof Chaville-Vélizy, um mit dem Zug vom Pariser Gare Saint-Lazare in die Picardie aufzubrechen.