Aus dem Zug berichten heißt dieser Tage nach Tief »Friederike« über die Lektüre im Zug berichten. Damit ist einem Zeitungsjournalisten zuzustimmen: »Atemberaubend, wie eine nicht fahrende Bahn den Literaturbetrieb lahmlegt.« Der Betrieb leidet, die Zeit zum zufallsgesteuerten Lesen wächst. Das kann zu ungeschützten Behauptungen über den Betrieb verleiten. Jedenfalls gelangte, gerade erschienen, auf diese Weise eine dieser immer häufigeren, typischen Biografien in meine Hände, die dem »Zeitzeugen« vorbehaltslos vertraut, von ihm genannte Ereignisse und Datierungen übernimmt, im schlimmsten Fall abstruse Hypothesengebäude aufbaut. Wenn offensichtlich wird, dass die »Zeitzeugen« sich ununterbrochen widersprechen, der Biograf, da er über kein eigenes Material verfügt, sich nicht zutraut, die Grenze zwischen wahren und falschen Aussagen zu ziehen, ist die Ideologie gefordert: Danach fügen, so ein anderer Sündenfall, die Aussagen der »Sprecherinnen und Sprecher« sich zu »einer polyphonen Erzählung« (wofür der arme Michail Bachtin herhalten muss), die »in ihrer Widersprüchlichkeit viel von jener Faszination vermittelt, die der Autor auf seinen Bekanntenkreis ausübt«.
Wer auf diese Weise »Zeitzeugen« als Quellen benutzt, übertritt die von der Quellenkritik zurecht für unhintergehbar erklärte Differenz zwischen dem Befund (welche Ziele kann der »Zeitzeuge« mit seinen Ausführungen verbinden?, worin bestand seine Verbindung zur Person: Konkurrent, Unterstützer, Untergebener, Übergeordneter?, worauf deuten Wortwahl und Diktion hin? usw. usf.) und der Interpretation (der Stellungnahme der Person).
Marcel Beyer verweist in Das blindgeweinte Jahrhundert (2017) ein Statement des »Fernsehproduzenten, Zeithistorikers, Publizisten und Moderators, Dokumentarspezialisten« zum »Busenattentat« auf Theodor W. Adorno (1969) in den Bereich subjektiver Befindlichkeit. Von jenem Mann überliefert Marcel Beyer die beiden Sätze: »History ist kalt, analytisch. Memory ist warm, emotional.«
Angesichts der Dominanz solcher Gefühle in den Biografien ist eine Kritik (ganz im Gefolge der Quellenkritik) des »Zeitzeugen« unumgänglich. Welche arbeitsaufwendigen Aufgaben sie zu erfüllen hätte, liegt auf der Hand. Ebenso offensichtlich ist: Wer die Kritik des Zeitzeugen unterlässt, muss »alternative Wahrheiten« unter allen Umständen rechtfertigen.
Ach ja, als Nachtrag das Eingeständnis: Der Verfasser ist ein miserabler »Zeitzeuge«: Nachdem der Herstellungsprozess von Thomas Bernhards Holzfällen diverse Umwege eingeschlagen hatte, hielt er die Abläufe in einer als »Gedächtnisprotokoll« ausgegebenen Notiz fest. Zwei Jahrzehnte nach dem Abfassungsdatum meinte er, sich auf sein generell für erstaunlich präzise eingestuftes Gedächtnis berufend, die Niederschrift sei unmittelbar nach der Publikation des Buches erfolgt: Ein nachträgliches Studium der Datierung ergab eine zeitliche Diskrepanz von sechs Jahren. So viel zu Gedächtnisprotokollen, die bereits beim Entstehen auf der Erinnerung beruhen und später nochmals falsch zugeordnet werden: Einem solchen »Zeitzeugen« würde und werde ich nicht glauben. Für eine Kritik des Zeitzeugen.