Peter Weiss, der am 8. November 1916 in Nowawes bei Berlin geboren wurde und am 10. Mai 1982 in Stockholm starb, wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Das Jubiläum seines 100. Geburtstags fällt mit dem 30. Geburtstag der Peter-Weiss-Gesamtschule in Unna zusammen, der einzigen Schule weltweit, die den Namen »Peter Weiss« trägt. Anlässlich der beiden Jubiläen fand eine Feierstunde statt, in deren Rahmen ein Grußwort von Raimund Fellinger (Cheflektor Suhrkamp und Insel Verlag) verlesen wurde.
Liebe Schülerinnen und Schüler der Peter-Weiss-Gesamtschule,
lieber Herr Schollas,
es ist eine übliche Geste, wenn man nach dem Tod einer Person darüber nachdenkt, wie sie sich zu aktuellen Anläßen verhalten hätte. In diesem Falle geht es darum, was Peter Weiss gesagt haben könnte, wenn er erfahren hätte, dass seit 1986, also bereits kurz nach seinem Tod, eine Gesamtschule in Unna nach ihm benannt worden ist. Um die Falle zu vermeiden, sich umstandslos in Peter Weiss hineinzuversetzen und in seinem Namen Zensuren zu erteilen, sei einiges in diesem Zusammenhang nicht Unwichtige aus seinem Leben und seinem Werk hervorgehoben.
1965, befragt nach der menschlichen Siedlung, die er in einen Atlas unauslöschlich eintragen möchte, beschrieb er, Sie wissen das, als »Meine Ortschaft«: Auschwitz. Nun könnte man, wie auf ein Reizwort hin, reagieren und beschreiben, wie der Maler, Dramatiker, Prosaautor und öffentliche Intellektuelle sich mit der von den Deutschen entfachten Hölle, »für die ich bestimmt war und der ich entkam«, beschäftigte, wie er in welcher Form darauf antwortete, welche persönlichen und politischen Konsequenzen er daraus zog. Damit würden seine Arbeiten mit einem generellen Nenner versehen, über dem Bruchstrich stünden nur einige Varianten.
Die Variante, die Peter Weiss zu diesem nicht hintergehbaren Thema geschaffen hat, ist einzigartig, da sie Kunst und Leben in einen unauflösbaren Zusammenhang spannt. Die gesamten Anstrengungen, Auseinandersetzungen, Kämpfe, die Peter Weiss mit sich, den Zeitgenossen wie den (literarischen und politischen) Traditionen geführt hat, dienten allein dem Ziel, nicht vor der Barbarei in die Knie zu gehen, gegen Auschwitz anzuschreiben, anzudenken. Von andren Anstrengungen mit gleichem Zweck unterschieden sich die seinen jedoch signifikant: Ihm war bewusst, dass solcher Widerstand, ein politischer wie ein individueller, ein künstlerischer wie ein politischer, nur von den sich dem Gang der Welt Widersetzenden selbst kommen kann, dass er nie von irgendwelchem selbsternannten Führungspersonal, seien es Linke oder Rechte, sei es ökonomisch, religiös, oder militärisch bedingt, auszugehen vermag. »Die Befreiung kann uns nicht gegeben werden, wir müssen sie selbst erobern« – dieser Satz aus dem Roman Die Ästhetik des Widerstands bildet die Essenz seines Schaffens. Dass mit diesen Worten jeder Generation eine Aufgabe gestellt ist, geht damit selbstverständlich einher.
Dass Schulen gefordert sind, hierzu ihren (sicher alles andere als einfachen) Beitrag zu leisten, ist eine logische Konsequenz dieser Weiss’schen Maxime. Sie ist umso mehr virulent, da in Zeiten wie diesen, im 21. Jahrhundert, der letzte Satz aus »Meine Ortschaft« Aktualität gewinnt, wonach in Sachen Barbarei »noch nichts zuende ist«.
Grüße, Grüße
Raimund Fellinger