Ich kann die Bilder einiger befreundeter Künstler aus Berlin kaum glauben: eine Stadt, zugepflastert mit AfD-Plakaten, die dazu aufrufen, keinen Cent für politisch motivierte Kunst auszugeben. Schlechte Nachrichten, und noch dazu alte: »Unpolitische Kunst« gibt es nicht. Dass solche und andere blödsinnige Slogans ihre Anhänger finden, macht sie nicht besser; solche verkürzten Darstellungen haben zum Zweck, dass noch der letzte Idiot seine Enttäuschung über die Welt an etwas festmachen kann und gleich noch eine einfache Lösung geliefert bekommt, auch wenn diese jeder Logik oder Wissenschaftlichkeit spottet. Der belgische Dichter und Maler Henri Michaux hat 1924 in Gedanken, die Freud nicht fremd sind darauf hingewiesen, dass die Geschichte der Menschheit bestimmt sei von den Pendelbewegungen des menschlichen Geistes: zwischen dem Einfachen auf der einen, dem Komplexen auf der anderen Seite.
Innerhalb dieser großen Ausschläge leitet das weltweite Erstarken der Rechten ein erneutes Zurückschlagen des Pendels ein; die komplexesten Fragen werden so lange zurechtgestutzt, bis sie ganz simpel erscheinen: Schließlich sollen auch die weniger gebildeten Schichten mitreden können. Dass alles blanker Unsinn ist, ist nicht so wichtig.
Als ich vor einigen Jahren Das Ende Europas schrieb, wollte ich so weit wie möglich vom Kleinklein der Tagesnachrichten weggehen. Zusammen mit meinen belgischen, französischen, italienischen und portugiesischen Schauspielern entwickelte ich folgende Hypothese: Ein nach rechts gerücktes Europa verkündet feierlich sein eigenes Ende. Ab nun regiert die schönste Harmonie als Basso continuo des neuen/alten Spiels: alles Unbequeme in die kriminelle Ecke abdrängen, indem man den Rechtsradikalen nach dem Mund redet, die man zwar sehr kritisch sieht, auf diesem Weg aber hoffähig macht. Am Ende setzen sich dieselben rechten Kräfte durch, die sich immer durchsetzen, denn sie allein sichern den Fortbestand der Diktatur des Marktes. Wohlgemerkt, das war vor dem Brexit, vor Syrien, vor Katalonien, vor VOX, vor dem italienischen Mini-Bot. Heute droht man den deutschen Kapitäninnen Pia Klemp und Carola Rackete mit Gefängnis, weil sie afrikanische Migranten aus dem Mittelmeer gerettet haben. Domenico Lucano, ehemaliger Bürgermeister des kalabrischen Fischerörtchens Riace, steht vor Gericht, weil er verzweifelte Flüchtlinge aufgenommen hat. Der Dschungel von Calais (dargestellt in Joe Murphys und Joe Robertsons Stück The Jungle) wurde Opfer von französischen Bulldozern und den Ideen, die hinter diesen Bulldozern stehen. Faschistische Parteien gewinnen die Sympathien der rechtsgerichteten Wählerschaft. In keinem der Fälle sieht sich Europa an, was die Ursachen für diese gewaltige Wirtschaftsmigration sind, welche die Rechte so sehr in Schrecken versetzt: die eigene koloniale Vergangenheit und die gegenwärtige Ausbeutung. Aber warum haben die Rechten mit ihren Versprechungen solchen Erfolg? War nicht vorherzusehen, dass der Populismus, zusammen mit der Diktatur des Marktes und der Manipulation von Informationen, bei verunsicherten Menschen gut ankommen würde? Die Komplexität nicht gelten zu lassen, steht am Anfang der sich überall ausbreitenden großen Lüge. Denn Vereinfachen heißt nicht selten, an der Wahrheit Verrat zu üben. Augenfälliges Beispiel ist der Klimawandel, den die Ultrarechten gern leugnen, um ihre Geschäfte, die ohnehin nicht gerade dem Wohl der Weltbevölkerung dienen, ungeniert weiter betreiben zu können.
In Argentinien, das nach dem neoliberalen Experiment vollkommen am Boden liegt, erleben wir gerade die nächste Stufe der demokratischen Heuchelei: Die beiden stärksten Kräfte (die weniger schlechte und die ganz schlechte) präsentieren sich im Wahlkampf Arm in Arm, schließlich muss man »die Märkte besänftigen«. Die angeblich »progressive, aber nicht revolutionäre Linke« schickt einen mit den eigenen Prinzipien kaum zu vereinbarenden Kandidaten ins Rennen, um die Märkte zu befrieden; die Ultrarechten wiederum stellen sich hinter einen Verräter aus den Reihen dieser angeblichen Linken und helfen damit den Märkten, sich ein wenig toleranter zu geben. Ganz im Ernst, warum sollen wir wählen gehen, wenn am Ende doch immer nur die Märkte über die Politik entscheiden? In ihrem Sinn funktionieren auch die Erzählungen der rechten Folklore. Die Philosophie weicht einem groben Moralismus (bisweilen angelehnt an die Fantasielehren der Evangelikalen), die Geschichte des Klassenkampfes verschwindet hinter dem ahistorischen Bild vom endgültigen Triumph des Kapitalismus, und an die Stelle der Nachrichten treten Trugmeldungen (heute nennen wir sie Fake News, doch sie gehen ursprünglich auf die Sophisten zurück, die mit rhetorischen Figuren arbeiteten, die nicht der Wahrheit entsprachen und Fehlschlüsse produzieren sollten und gegen die Platon sich auflehnte).
Es ist sehr schwierig für den atheistischen und vernunftgeleiteten Menschen von heute, eine gültige Definition von Gut und Böse zu formulieren, um für das Gute eintreten zu können. In der Postmoderne konnten wir Gut und Böse noch als die beiden Komponenten eines übergeordneten moralischen Systems verstehen: Wenn das Böse sich als das offenbart, was es ist, als eben das Böse, dann hilft das der Profilierung des Guten. Das einzige Böse, das sich nicht integrieren ließ, war die Gleichgültigkeit. Dieses Leitmotiv zieht sich durch mein dramatisches Werk. Ich denke nur an Die Sturheit (von 2008), wo ich einen faschistischen Kommissar auftreten lasse, der mitten im Spanischen Bürgerkrieg ein humanistisches Ziel hat: einen romantischen Faschismus, den seine eigenen Vertreter als gut empfinden.
Der argentinische Philosoph Eduardo del Estal liefert eine neue Definition des Bösen, die mir zutreffend erscheint: Das Gute möchte die Zukunft retten; das Böse vergeht sich an der Gegenwart. Das Denken der Rechten tut den Klimawandel als Spinnerei ab. Argentinien war einmal die Kornkammer der Erde, nun droht es sich in eine Wüste zu verwandeln: Der Anbau und der in Dollar notierte Export von Soja als Futter für chinesische Schweine zerstört unsere Felder. Hinzu kommen die Pestizide von Monsanto, die in reichen Ländern verboten sind und hier von korrupten Politikern zugelassen werden. Befriedigt werden damit dieselben Interessen des Marktes, die später dafür sorgen, dass dieses Gift in Europa auf dem Tisch landet. Der Kampf der argentinischen Gemeinden gegen das Giftsprühen gelangt kaum in die offiziellen Medien, und die indigenen Stämme, die einst den Fortbestand des Amazonasgebietes sicherten, werden ausgelöscht, von einer ultrarechten Regierung, die nicht allein mit den Stimmen des Volks an die Macht gekommen ist. Sie haben ihre politischen Gegner mit haltlosen Vorwürfen ins Gefängnis gebracht, und dann halfen noch die in CIA-Laboren entwickelten Fake News.
Die Rechte ist auf dem Vormarsch, und wir, die Künstler, die Schriftsteller, die denkenden Mitglieder der Gesellschaft, sehen uns zurückgeworfen auf die unabdingbare Pflicht zur Anklage. Man zwingt uns, das Offenkundige aufzuzeigen, herauszuschreien, was alle wissen, und das Abenteuer der Kunst darauf zu beschränken, unsere condition humaine hochzuhalten. Dabei wäre es doch unsere Aufgabe, in unbekannte Zonen aufzubrechen. Wenn das erste Opfer des rechten Denkens das Menschsein selbst ist, dann ist das zweite die Phantasie. Aber es könnte auch genau umgekehrt sein: Versuchen wir doch einfach mal, dass die Phantasie nicht verschwindet, mal sehen, ob wir von dieser Seite nicht die Menschheit wiederaufrichten können. Unsere Zukunft steht auf dem Spiel. So, wie Michaux, der letzter Vertreter der Moderne, es erklärt hat:
»Freud machte eine Entdeckung. In der Wissenschaft wird eine Entdeckung oft dadurch gemacht, dass etwas aus einer Disziplin auf eine andere übertragen wird. Für die Astronomie bedeutet die Spektralanalyse eine Entdeckung. Doch sie wurde in der Chemie schon zuvor angewendet. Freud hat in die Naturwissenschaften die psychologischen Erkenntnisse des Romans, der Erinnerung und des Beichtens eingeführt.«
Höchste Zeit, dass die Politik ein paar Verfahren der Kreativen übernimmt, der Träume, des Instinkts der Bewahrung; höchste Zeit, dass sie ein paar bahnbrechende Entdeckungen macht, wenn wir unsere Zukunft retten wollen. Die paar Cent an Kunstförderung zu sparen, ist da gerade das Falsche.
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold, zuerst erschienen in: Suhrkamp Theater Magazin 2020 .