2001 feierte der Regisseur, Autor und Schauspieler Rafael Spregelburd nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Argentiniens auf den Ruinen einer glorreichen Vergangenheit eine aberwitzige Party, heute, bemerkt er rückblickend, stellt sich ein ähnliches Gefühl ein.
Obwohl schon über so gut wie alles geschrieben worden ist, schreiben die Autoren weiter. Was steht hinter dieser berufsspezifischen Sturheit? Der unablässige Drang nach Veränderung oder der insgeheime Wunsch, zu bewahren, die Enzyklopädie fortzuführen, der Welt eine Fußnote hinzufügen, eine Erklärung, die greift? Geht es um Selbstvergewisserung oder um Revolution? Warum werden immer neue Lieder geschrieben, Romane, Stücke? Unterliegt die »Wirklichkeit« so radikalen Veränderungen, dass es im Gegenzug ständig neue »Künstlichkeiten« braucht?
Dass Schreiben ein Akt des »Widerstands« sei, ist eine in vielen Kulturen verbreitete Vorstellung. Sie ist deshalb so beliebt, weil sie einen der sonderbarsten Berufe greifbar macht, das Geschichtenerzählen, das eine noch größere Gefahr darstellt als die Prostitution, weil es – nur mit Worten und Ideen – wie ein Chamäleon seine Gestalt wandeln und sich den jeweiligen Anforderungen einer Epoche anpassen kann. Es gibt Länder, die damit kein Problem haben, die reichen, stabilen Länder, in denen alle Bereiche der Gesellschaft ihren festen Platz haben. Die großen Debatten finden in öffentlichen Foren, im Theater, im Parlament statt. Während auf der Straße das Leben seinen Gang geht. Über diese Länder weiß ich wenig. Ich kenne mich besser mit denen aus, die schon mit der Bewältigung der »Wirklichkeit« an ihre Grenzen kommen. Dort haben wir Autoren – notgeborene Philosophen, Rechercheure ohne Zugangsberechtigung, Anwälte ohne irgendein Studium – die vordringliche Aufgabe, Bestand zu haben; und am besten besteht man fort, indem man immer weiter arbeitet. Dieser Gedanke beinhaltet etwas Befristetes, und eigentlich ist er nicht so weit entfernt von der in uns verankerten, mit Selbstaufopferung verbundenen jüdisch-christlichen Auffassung von Arbeit. »Bestand haben« und »Widerstand«, beides hat dieselbe lateinische Wurzel, »resistentia«, was erst mal nichts weiter meint als die Fähigkeit eines Körpers, einer sich ihm entgegenstellenden Kraft eine Zeitlang standzuhalten. Diese klassische, positivistische Definition birgt etwas Statisches, das ein wenig erschreckt. Demnach wäre das Schreiben im Sinn von Widerstand leisten mit Starre verbunden, mit Ausharren, mit Unveränderlichkeit. Mit sich eins bleiben, unabhängig von jeder Einwirkung von außen. Das Schöpferische lässt sich nur schwerlich mit dieser ersten Definition übereinbringen.
Auch in der Psychologie ist »Widerstand« etwas Negatives, hier bezeichnet der Begriff das Verhindern jedes therapeutischen Zugriffs. Sich zu wehren, ist nicht zwangsläufig gut. Positiv dagegen sieht die Psychologie die »Resilienz«, also die Fähigkeit eines Individuums, eine Aggression (eine traumatische Erfahrung) zu verarbeiten, sie dadurch, dass sie sie zu sich vordringen lässt, zu überwinden. Hier findet ein Nachgeben statt, etwas Wechselseitiges. Die Psychologie hat den Begriff der Resilienz aus den Ingenieurswissenschaften entliehen, wo er die Quantität an Energie bezeichnet, die ein Stoff bei einem Aufprall in sich aufnehmen kann, bevor er zu Bruch geht.
Wir haben also auf der einen Seite den »Widerstand« (das Statische, Unveränderliche) und auf der anderen die »Resilienz« (das Durchlässige, im Fluss befindliche). Wie lässt sich das nun auf das Schreiben übertragen? Im ersten Fall lautet die Aufgabe, Widerstand leisten gegen die Ungerechtigkeit, gegen das Hässliche, das Böse im Allgemeinen und dem das Gerechte, das Schöne, das Gute entgegenzusetzen. Im zweiten Fall lassen wir die Ungerechtigkeit, das Hässliche, das Böse an uns heran, wir greifen es auf, womit wir uns von ihm auch beeinflussen lassen. Als vom Aussterben bedrohte Art nehmen wir das in Kauf; wir passen uns allem Bösen, jeder Gewalt gnadenlos an, in dem Gedanken, so weiterzuleben. Ein solches Schreiben holt das Traumatische auf die Bühne, mit dem Ziel, es zu überwinden; es macht es sichtbar, bringt es uns vor Augen, zerrt es aus dem Reich der gestaltlosen Dämonen hervor. Ein solches Schreiben versteht sich als »umgekehrte Utopie«: Wenn das, was ich (be)schreibe, die Wirklichkeit ist, dann darf sie so nicht sein! Ob »Widerstand« oder »Resilienz«, in beidem liegt etwas Anklagendes. Wir Schriftsteller sind zwangsläufig Ankläger. Warum aber ist es dann so, dass – allgemein gesprochen – aus einem Jahrhundert ausgerechnet die Schriftsteller hervortreten, die diese Dichotomie überwinden, die sich von der »Wirklichkeit« nicht vereinnahmen zu lassen scheinen, sondern sich selbst die Welt ausdenken?
In vielen Ländern, zum Beispiel in meinem, ist den Leuten klar, dass das, was die Mächtigen ihnen als »die Wirklichkeit« vorsetzen, nur eine von vielen möglichen Sichtweisen ist. Anstatt an dieser Gegenwartserzählung den Hebel anzusetzen, habe ich mich oft dabei erlebt, wie ich – bewusst oder unbewusst – mit akribischer Besessenheit überall hingesehen habe, nur nicht dorthin. Als Argentinien im Jahr 2001 zusammenbrach, führten meine Schauspieler und ich mit Bizarra eine Art Theaternovela auf; alle Welt wollte uns bedrückt sehen, doch wir haben auf den Ruinen einer glorreichen Vergangenheit eine aberwitzige Party gefeiert, und zugleich hat uns das im Umgang mit dem Trauma geschult: Wir bringen die Katastrophe gewissermaßen als Zerrbild auf die Bühne, damit ihr wahres Gesicht nicht alle guten Gedanken verdüstert.
Nach langer Zeit (ach was! nach 15 Jahren, denn in diesem Zyklus wiederholen sich die neokapitalistischen Krisen in meinem Land) hatte ich wieder ein ähnliches Gefühl. Inmitten der Frustration, dem politischen Rollback, einem weltweit finsteren Panorama von Dummheit und Dreistigkeit lud mich das Teatro Nacional Cervantes ein, Die Sturheit zu inszenieren, eines meiner komplexesten und rätselhaftesten Werke. Ich hatte das Stück – das in den Spanischen Bürgerkrieg zurückführt – 2008 für das Schauspiel Frankfurt geschrieben und in Argentinien nie auf eine Bühne bringen können. Aber in der allgemeinen Proteststimmung fand es, trotz der ausufernden Länge, der darin ausgebreiteten »Umkehr-Utopie«, der ideologischen Heftigkeit breiten Zuspruch. Das Stück galt als »populär« und »zugänglich«, was man in meinem Land sonst eher weniger über meine Arbeiten sagt. Publikum, Kritiker und Programmmacher haben darin ein Werk des »Widerstands« gesehen, gegen die herrschende Dummheit, gegen die mangelnde Weitsicht, gegen das blinde Streben nach einem kurzen Hochgefühl.
Doch in Wahrheit habe ich gar keinen Widerstand geleistet. Ich wehre mich einfach nur dagegen, mir von der Wirklichkeit vorschreiben zu lassen, was ich über sie sagen soll.
Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold