Man kann es weder messen noch wiegen und selbst mit den fortschrittlichsten Mikroskopen nicht beobachten. Man bekommt dieses unfassbare Ding namens Zukunft in kein Labor und kann demnach – wie manche meinen: glücklicherweise – keine Experimente an ihm durchführen. (Außer diesem einen, großen Experiment der Gegenwart.) Es geht uns mit der Zukunft wie Alice in Alice hinter den Spiegeln, der die Rote Königin erklärt: »Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.« Jeder, der sich im Prophetischen übt, gleicht unweigerlich jenem schnaubenden Maulesel, der stupide einer vor ihm hängenden Karotte nachtrabt, ohne sie jemals zu erreichen. Denn das Nachdenken über alles Zukünftige steht unter prekären Vorzeichen. Das Objekt der Reflexion besitzt nämlich eine sonderbare Eigenschaft: Es existiert nicht.
Dennoch haben die Menschen zu jeder Zeit Techniken entwickelt, um diese für sie konstitutive Unruhe zu beschwichtigen, die es mit sich bringt, in der Zeit zu leben, ohne über sie zu bestimmen und ohne sie zu überdauern: das Orakel, die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die Computersimulation und – seit jeher – das Erzählen.
Denn es gibt eine Zukunft, mit der man sich auseinandersetzen kann – und muss. Es ist die Zukunft, wie sie sich in unserer Gegenwart offenbart. Das nämlich, was Zukunft bedeutet, wurde und wird zu allen Zeiten anders gedacht und erzählt: als von Göttern bestimmtes, durch Opfer zu beschwichtigendes Schicksal; als bevorstehende Apokalypse und Erlösung im Neuen Jerusalem (der Werbetext des Christentums); als Streben hin zum absoluten Weltgeist; als endloser Fortschritt; als Siegeszug des Proletariats; als hereinbrechende Katastrophe oder als Schlaraffenland des freien Marktes. Was wir heute erleben, ist eine Renaissance der Apokalypse. Der Blick voraus erscheint uns in Medien und Kino als Katastrophenszenario: der Klimawandel, die digitale Revolution, die sukzessive Zerstörung der globalen Ökosysteme, der bevorstehende Peak Oil und die ungelöste Energiefrage, ein vor dem Kollaps stehendes Finanzsystem, ein drastisches Wachstum der Weltbevölkerung, eine Milliarde Hungernde, Massenmigration, der wiederaufkeimende Nationalismus und Populismus, Terror, schwelende religiös-ideologische Konflikte und Identitätskämpfe sowie technologische Unfälle. Demgegenüber steht eine paralysierte Politik, die sich darauf beschränkt, systemgefährdende Entwicklungen kurzfristig abzuwenden und dabei demokratische Prozesse zu unterlaufen und zu zerstören. Eine Folge ist der Vertrauensschwund in die Politik und das zunehmende Desinteresse der Bevölkerung an den Möglichkeiten politischer Gestaltung. Die Gegenwart hat sich der Indifferenz und Passivität verschrieben. Es scheint, als wären wir angeleitet durch die Devise des vierten Earl of Oxford, die bekanntlich lautet: »Erfahrene Propheten warten die Ereignisse ab.« Es fehlt an konkreten Visionen. Nur Technologiekonzerne und ihre Apologeten werden mit ihren technophilen und marktwirtschaftlichen Programmen – etwa des Geo Engineering oder Human Enhancement – zu den fragwürdigen Propheten unserer Gegenwart. Zukunft wird darüber hinaus nicht mehr als zu ergreifender Möglichkeitsraum verstanden, ebenso wenig als jenes durch uns Werdende, für das wir alle eine Verantwortung tragen, da wir heute wie nie zuvor auf dessen Kosten leben. Wir scheitern grundlegend daran, uns heute das Zukünftige vorzustellen, es fühlbar zu machen und zur Sprache zu bringen. »Was immer Menschen tun, erkennen, erfahren oder wissen«, so schreibt Hannah Arendt, »wird sinnvoll nur in dem Maß, in dem darüber gesprochen werden kann.« »Stumm«, so schreibt sie an anderer Stelle, »ist nur die Gewalt.« Erst was wir zur Sprache bringen und somit uns vorstellen können, können wir auch verändern. Darin sehe ich die Aufgabe der Literatur.
In seinem Buch Die große Verblendung denkt der indische Autor Amitav Ghosh darüber nach, warum ebendiese Literatur bislang versagt an der Imagination des Klimawandels. Die Veränderungen durch die Erderwärmung, so seine These, seien dermaßen disruptiv und radikal, dass sie in der Belletristik keinen Platz fänden und folglich in die Science-Fiction verbannt würden, wo man sie nicht ernst zu nehmen bräuchte. Es gibt wohl noch andere Gründe für unsere fruchtlose, lahme Vorstellungskraft. Klima, so die eingängige Formel, ist das, was man erwartet; Wetter hingegen das, was man bekommt. Das Klima ist ein Mittelwert. Es bleibt abstrakt und über die Maßen unanschaulich. Wir behelfen uns mit Symbolen: mit schmelzenden Gletschern oder elenden Eisbären. Das Klima verändert sich jedoch weder plötzlich noch zwingend katastrophisch, vielmehr nach und nach und über die Spanne eines Menschenlebens. Wie der Frosch im langsam sich erwärmenden, schließlich kochenden Wasser, das ihn tötet, bemerken wir die Veränderung nicht. Denn wir sind Wesen des Unmittelbaren. Unsere Gehirne, unsere Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster sind seit Millionen Jahren darauf ausgerichtet, zwar auf Gefahr zu reagieren – etwa auf den vor uns stehenden Tiger mit Flucht –, nicht aber auf abstrakte Risiken, schon gar nicht auf komplexe wissenschaftliche Forschungen und Computermodelle nichtlinearer Systeme, die dazu noch von Interessengruppen verleumdet und diffamiert werden. Wir lesen von den kommenden Gefahren und Veränderungen, doch wir blicken aus dem Fenster, hören die Vögel singen, sehen die Bäume sich im Wind wiegen, und denken: Alles ist gut. Auf Erfahrung reagieren wir mit dem Denken. Wir reagieren aber nicht auf das Denken. Es ist ein großes Missverständnis der Aufklärung: Wissen und Handeln sind nicht notwendig verknüpft. Auf die kognitive Dissonanz reagieren wir mit fröhlicher Verdrängung.
Wir reagieren nicht auf das Denken, aber auf Geschichten. Die Sprache der Literatur ist ein feines Glas. Sie macht zuvor Unsichtbares sichtbar, zuvor Undenkbares denkbar, zuvor Verdrängtes bringt sie manchmal ans Licht. Die Literatur ist auch eine Simulationsmaschine. Darin eingespannt können wir nicht nur Gedanken formen, sondern auch Erfahrungen machen. Im Idealfall kann dieserart eine kollektive Vorstellungswelt entstehen. Das, was Zukunft ist, das durch uns Werdende, wird darstellbar, fühlbar und nicht oder doch zu verantworten. Der uniformen Welt der Algorithmen gilt es, verzweigte Geschichten entgegenzusetzen, dem Zählen das Erzählen.
Die Zukunft ist radikal offen. Im Raum des Möglichen hat alles seinen Platz. Auch das Schlimmste. Sogar das Undenkbare. Der Weltzustand der Angst ist genau darum angebracht. Die Reaktion darauf darf kein Zurücklehnen sein, vielmehr ein ständiges Schweifen, eine Suchbewegung, ein Reagieren, Justieren und Variieren. Aus der Büchse der Pandora kamen nicht nur die Übel über die Welt, sondern auch die Hoffnung.
In Worten Robert Musils:
»Wer Möglichkeitssinn besitzt, sagt nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.«
Zuerst erschienen in: Suhrkamp Theater Magazin 2019