Nach welchem System ordnen Sie Ihre Bücher?
In der Physik kennt man eine faszinierende Dynamik, die man deterministisches Chaos nennt. Es ist eine scheinbare Unordnung, die per se unvorhersehbar ist, aber klaren Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Tagtäglich bin ich mit dem quasideterministischen Chaos meiner Bücherregale konfrontiert. Sie unterliegen auch einem anderen physikalischen Gesetz: dem zweiten Satz der Thermodynamik, der besagt, dass alles im Universum unweigerlich hin zu größerer Unordnung strebt. Meine Ordnungsversuche beschränken sich entsprechend auf kleine Inseln, die sich je nach Schreibanlass formieren. Ich sammle dazu Dutzende, manchmal Hunderte Bücher (aus meiner eigenen wie auch verschiedenen öffentlichen Bibliotheken), die mit dem jeweiligen Themenfeld zu tun haben, mit dem ich mich gerade schreibend beschäftige, und transportiere sie – teils in großen Rucksäcken – zu den dafür vorgesehenen Regalen in der Nähe meiner Schreibtische entweder meiner Wiener Wohnung oder im Haus meiner Familie außerhalb Wiens, wo ich die Bücher dann nach Dringlichkeit und Provokationspotential sortiere.
Welches Buch lesen Sie gerade?
Ich bin ein erratischer Leser. Ich lese nie nur ein Buch, sondern immer Dutzende parallel und kaum je eines zu Ende. Eigentlich nie, wenn ich nicht muss. Je besser das Buch, desto weniger lese ich darin, weil es mich dazu drängt, es zur Seite zu legen und selbst zu schreiben.
Wie weit reicht Ihre Sammlung zurück?
Ich bin einmal einem Violinisten begegnet, der bei einem Motorradunfall einen Arm und ein Bein verloren hatte und Prothesen trug. Er konnte nicht mehr Geige spielen und hatte in verschiedenen Belangen extreme Ansichten entwickelt. Von ihm kam die Idee, dass man immer nur ein Regal besitzen sollte. Für jedes neue Buch müsse ein altes geopfert werden, sodass nach Jahren und Jahrzehnten des Sammelns und Kondensierens das Regal zu einem präzisen, dichten Ort der eigenen Lesebiographie geworden wäre, quasi zum Buchcode des Selbst. Dieser Idee habe ich in früheren Tagen zahlreiche Bücher geopfert. Das dem Konzept entgegengesetzte wuchernde Chaos, das später wieder übernommen hat, erlaubt mir nicht, den Bestand und sein Alter genau anzugeben.
Welche Bücher liegen Ihnen besonders am Herzen?
Die, die ich in dem kleinen, verschlossenen Schränkchen im Hinterzimmer meiner Wohnung aufbewahre.
Welches Buch hat Ihr Leben verändert?
Ich habe grundsätzlich den Anspruch an jedes Buch, dass es mein Leben verändern sollte. Da gab es doch zumindest einige in den vergangenen Jahrzehnten: Paul Celans Mohn und Gedächtnis etwa, Prousts Recherche, Herta Müllers Herztier. In meinem naiven Humanismus dachte ich immer, dass Bücher, die einen verändern, einen immer notwendig zu einem besseren Menschen machen müssten. Houellebecqs Elementarteilchen hat mich eines Besseren belehrt.
Welches Buch haben Sie zuletzt verschenkt?
Reinen Gewissens kann ich nur meine eigenen Bücher verschenken, die anderen habe ich ja nicht fertig gelesen. Vor kurzem verschenkte ich Virginie Despentes Vernon Subutex, nachdem ich die ersten 50 Seiten gelesen hatte. Ich hatte Glück. Auch der Rest dürfte brauchbar sein.
Wer soll Ihre Bücher einmal bekommen?
Meine zweite Tochter aus dritter Ehe.
Wie sähe Ihre ideale Bibliothek aus?
Sie bräuchte magische Attribute. Man müsste sie etwa falten können, ganz klein, und in die Hosentasche stecken, sodass man sie auf jede Reise mitnehmen könnte. Der persische Großwesir Abdul Kassem Ismael transportierte im 10. Jahrhundert seine über 100.000 Bände umfassende Bibliothek auf den Rücken von Hunderten Kamelen, denen er beibrachte, in alphabetischer Reihenfolge durch die Wüste zu schreiten. So ähnlich müsste das funktionieren, nur etwas weniger aufwendig. So könnte ich überall auf der Welt schreiben, müsste nur meine Bibliothek entfalten, etwa auf einer verstaubten Piste in Nairobi, und könnte darin wandeln und mich verlieren. Die ideale Bibliothek kann niemals digital sein. Sie muss einen Geruch haben und der Fußboden muss knarren, wenn man darin umhergeht. Sie darf auch keiner allzu durchsichtigen Ordnung folgen, damit sie einen immer überraschen kann.