Es dauerte ein Vierteljahrhundert, bevor die Briefe meiner Mutter mich erreichten. Für Briefe ist das eine lange Zeit. Ein Baum hingegen wächst leicht dreißig Jahre, bevor er hinauf reicht zu den Kronen. Dann wird er gefällt und flugs ist er Papier. Und man schreibt Briefe darauf. Wie meine Mutter im Jahr nach meiner Geburt. Zu einem unscheinbaren Bündel verschnürt lagen sie dann im alten Schrank, in den Umzugskartons, auf dem Dachboden des Hauses, ich weiß nicht, wo. An meinem 26. Geburtstag bekam ich sie zum Geschenk: eine Zeitkapsel. Aus ihnen sprach eine junge Frau, die ich so nicht mehr kannte. Wir waren – über die Sprache durch die Zeit verbunden – Gleichaltrige. Würde ich antworten, dachte ich damals, meine Replik würde sie ein Vierteljahrhundert später erreichen.
Manchmal nehme ich die Briefe noch zur Hand und lese. Die Episode etwa, in der ich heute glaube, einen Keim meiner späteren Arbeit zu erkennen. Es ist der beginnende Winter 1982. Draußen fällt der erste Schnee. Wir leben alleine. Der Vater ist eine andere Geschichte. Und während meine Mutter in der alten Wiener Wohnung mit dem knorrigen Holzboden versucht, die neuen Vorhänge aufzuhängen – schwere, orangefarbene, hässliche Vorhänge –, sitze ich still im Nebenzimmer. Es ist so leise, dass die Mutter aus Sorge von der Leiter steigt, um nach mir zu sehen. Sie findet mich seelenruhig und glücklich. Ich habe mich meiner Windeln entledigt und begonnen, auf dem Teppichboden Türme aus Exkrementen zu bauen. Nimm die Scheiße und mach etwas Schönes damit! Etwa einen Turm. Oder ein Theaterstück. Das leitet mich bis heute an.
Das Kunstwerk ist ein Verwandlungsraum, ein schöpferischer Kokon. Diese Fähigkeit, vor dem Schrecken nicht zu verstummen, sondern ihn zu verwandeln, birgt auch eine Verantwortung. Wir haben heute, so glaube ich, keine Sprache für die Welt. Wir haben nicht nur keine Sprache für globale komplexe Zusammenhänge, für Hyperrealitäten und die enthemmten Dynamiken der kapitalistischen Weltmaschine. Wir scheitern daran, uns das fragile Geflecht zu vergegenwärtigen, dessen Teil wir sind, diese lebendige Schicht, die sich um den verwundbaren Planeten legt. Wir verstummen im Schrecken darüber, dass das, was uns ewig und unveränderlich erscheint – dieses Gefüge aus Meeren, Bergen, Eismassen, Flüssen, Wäldern und Leben –, tatsächlich bedroht sein könnte. Wir sind invertierte Utopisten. Während der Utopist nämlich mehr vorstellen kann, als er herstellen kann, können wir nur herstellen, ohne noch eine Vorstellung davon zu haben, was wir eigentlich tun. Von den Konsequenzen unseres Handelns können wir uns kein Bild mehr machen. So wie ganze Kriegsgenerationen stumm vor ihrer unbewältigten Vergangenheit stehen, unfähig, darüber zu sprechen, so steht die Menschheit heute vor der Gegenwart und noch mehr vor dem Kommenden. Wir besitzen Daten, mehr als je zuvor. Wir sind angeschlossen an unerschöpfliche Informationsströme. Aber es fügt sich uns nichts mehr zu einem Zusammenhang. Was wir aber nicht vorstellen, das heißt, erzählen können, können wir auch nicht verantworten oder verändern. Darin sehe ich eine Aufgabe der Literatur: aus dem bloßen Zählen wieder ein Erzählen zu machen, und sich abzuarbeiten an der kargen Stummheit, mit der wir vor der Welt stehen.
Wenn Brecht vor 80 Jahren schrieb, ein Gespräch über Bäume sei ein Verbrechen, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließe, so muss man das heute umkehren. Ein Verbrechen wäre es, nicht über Bäume, das heißt, über den Naturzusammenhang und dessen Zerstörung zu sprechen. Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über das Wetter eine Anklage ist? Das Selbstverständliche hat seine Unschuld verloren. Selbst das Alltäglichste – Was esse ich? Wie wohne ich? Wie bewege ich mich fort? – muss sich heute zum Großen in ein Verhältnis setzen. Das gilt auch für diese eine, mein Leben bestimmende Frage: Was schreibe ich?
Wenn ich über meine Arbeit am Letzten Mensch spreche, beginne ich oft mit folgender Klage: »Ich habe einen Fehler gemacht.« Ich schrieb, ohne die Zeit dafür zu haben, ruhelos, zwischen Lesereisen und Medienterminen. Das Schreiben aber braucht die Verlangsamung. Erst die gedehnte Wahrnehmung, die Langeweile, öffnet Räume – für Komplexität, Vieldeutigkeit und Schönheit. Was aber, wenn keine Zeit bleibt? Ich wünschte, ich könnte dem entkommen. Ich könnte die Poesie als Selbstzweck begreifen und das Zwischenmenschliche als den ewigen Stoff der Dichtung. Ich würde mich mit dem Kleinen und Alltäglichen befassen. Ich würde über die Briefe meiner Mutter schreiben.
Die Grundvoraussetzung des Schreibens hat sich im Anthropozän verändert. Zum ersten Mal wissen wir nicht, ob die Welt, wie wir sie kennen, weiter bestehen wird. Oder besser – wir wissen: Sie wird es nicht. Wir haben das sichere Nest des Holozäns verlassen, diese klimatische Stabilitätsphase der letzten 10.000 Jahre, in der alle menschliche Kultur sich erst entfalten konnte. Früher fand jeder Tod innerhalb der Welt statt, jede Epoche innerhalb der fortlaufenden Geschichte, jedes neue Buch fügte sich ein in diese unendlich und ewig erscheinende Bibliothek. Das ist heute anders.
Also mache ich den Fehler und schreibe weiter.
Ich schrieb Der letzte Mensch. Was wird jemand erleben, der heute in Europa geboren wird? Das Stück sollte anschließen an Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, meinen Roman, in dem ich mich zwar an einer Zeitdiagnose und einer Herleitung des technischen Weltzustands versuche, in dem es aber keine Öffnung gibt, keine Hoffnung. Ich wollte diese Öffnung. Als Möglichkeit. Ganz gleich, was ist – was könnte sein?
In der Klimaforschung und im Risikomanagement gibt es ein wunderbares Werkzeug, um mit dem Unvorhersehbaren umzugehen: die Szenariotechnik. Ich kann nie wissen, was kommt, aber ich kann mir verschiedene wahrscheinliche und auch unwahrscheinliche Geschichten darüber erzählen, was kommen könnte – und mich dann zu jeder dieser Geschichten verhalten. Das kannten bereits die Stoiker. Seneca nannte das »praemeditatio malorum«. Wenn ich mir das Schlimmste immer als Möglichkeit vor Augen halte, bin ich, wenn es eintreten sollte, gewappnet. Für das Stück entwickelte ich also drei mögliche Szenarien: erstens ein Kollapsszenario; zweitens die Geschichte einer technologischen Selbstüberwindung; und drittens eine utopische Erzählung, die nach einer wünschenswerten Zukunft fragt. Während sich unsere Wirklichkeit aber prometheisch, von der Gegenwart in die Zukunft, das heißt, zu jedem Zeitpunkt unvorhersehbar entfaltet, geht das Erzählen einen anderen Weg. Erzählt wird immer von einem Ende her, rückwärts. Meine Szenarien folgen also der Bewegung des wunderbaren Futur II. Was wird einmal gewesen sein?
Wir sind fiktionsbedürftige Tiere. Wir brauchen die Zukunftsphantasie heute, um uns vor uns selbst zu retten. Neben den apokalyptischen Klimaszenarien und den Maschinenträumen des Silicon Valley brauchen wir vor allem eine Geschichte der hoffnungsvollen Metamorphose. Wenn ein positives Zukunftsnarrativ Erfolg hätte, könnte es Menschen Halt geben, Kreativität und Kraft freisetzen. Wir könnten gemeinsam aus der Scheiße etwas Schönes bauen.
Wir sind eine zähe und anpassungsfähige Spezies. Aber warum eigentlich? Wir sind weder besonders stark, noch schnell, noch haben wir besonders robuste Körper. Doch wir haben zwei wesentliche Eigenschaften: die Fähigkeit zur Imagination und zur Kooperation. Wir müssen nichts hinnehmen, wie es ist, wir können uns vorstellen, wie es sein könnte. Weil wir Sprache haben, die uns vom Gegebenen freispricht. Das macht uns kreativ und lösungsorientiert. Doch als Einzelne sind wir ohnmächtig. Darum haben wir Worte, Briefe und Geschichten, die wir teilen. Was die Menschheit erreicht hat, verdankt sie der Kooperation, einem Bund, über Raum und Zeit hinweg, zwischen Orten, Weltteilen und Generationen. Wenn wir uns daran erinnern, gibt es Grund zur Hoffnung.
Bücher, so bemerkte Jean Paul einmal, sind nichts als dickere Briefe an Freunde. Ich schreibe sie an mein nichtgeborenes Kind.
Liebste Tochter,
wo wird das Neue seinen Anfang genommen haben? Vielleicht in der Fähigkeit, wieder zu träumen in einer traumlosen Welt. Denn es spricht sich herum, was alle insgeheim längst wissen: dass wir im Traum nicht rechnen können, dass der Traum das Zahlentier nicht kennt, dass in den tiefsten Schichten unseres Seins einem der Zutritt verwehrt bleibt: dem berechnenden Menschen.
Der letzte Mensch von Philipp Weiss wird am 8. Oktober 2019 am Hamakom Theater in Wien uraufgeführt.