Am 23. April 2023 wäre einer der bedeutendsten Historiker des 20. Jahrhunderts 100 Jahre alt geworden: Reinhart Koselleck. Man hat ihn als einen »denkenden Historiker« (Hans-Georg Gadamer) beschrieben, das heißt als einen, der nicht nur die Archive durchforstet und Quellen sammelt, sondern sich auch theoretisch und philosophisch mit den grundlegenden Problemen der Geschichtswissenschaft befasst. Tatsächlich hatte Koselleck schon mit seiner Dissertation Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt ein Buch vorgelegt, das weit mehr war als eine historische Untersuchung zur Geschichte des 18. Jahrhunderts und schnell zum Klassiker avancierte.1 Und als Mitherausgeber und maßgeblicher Autor der Geschichtlichen Grundbegriffe, des berühmten Lexikons zur politisch-sozialen Sprache und zu ihren Wandlungen, erschuf er dann eine der »Kathedralen des Geistes« der alten Bundesrepublik.2 Der dort grundgelegte und dann in mehreren mittlerweile ebenfalls klassischen Büchern wie Vergangene Zukunft, Zeitschichten und Begriffsgeschichten weiterentwickelte Ansatz der »Begriffsgeschichte« begründete Kosellecks Weltruhm.3
Zum 100. Geburtstag erscheinen endlich seine Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung erstmals in einem Band unter dem Titel Geronnene Lava – das lange erwartete, aber nie vollendete Buch Kosellecks zur »politischen Ikonologie«.4 Die politische Ikonologie war – das zeichnet sich immer deutlicher ab – neben der Begriffsgeschichte sein zweites großes Lebensthema, das er seit den 1960er Jahren verfolgte, sodass sich die Frage stellt, wie die beiden Themen in seinem Denken zueinander stehen. Die gesammelte sowie teilweise erstmalige Publikation der Texte zum politischen Totenkult und zur Erinnerung lässt nun eine Vermutung zu: Koselleck hat sich in seinem Denken von den Begriffen als Initiatoren und Indikatoren des politisch-sozialen Wandels zu den Denkmälern als Initiatoren und Indikatoren des Wandels der »politischen Sinnlichkeit« bewegt – von der Begriffsgeschichte zur politischen Sinnlichkeit.
Die von Koselleck entwickelte Begriffsgeschichte reagierte auf den Siegeszug der Sozialgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt natürlich an seiner Heimatuniversität Bielefeld in Gestalt von Hans-Ulrich Wehler –, die tendenziell alle Ideen zu Überbau- beziehungsweise Epiphänomenen der sozioökonomischen Basis erklärt hatte. Dagegen versuchte Koselleck, die Bedeutung von politisch-sozialer Sprache und von deren Grundbegriffen sowohl als Indikatoren wie auch als Initiatoren gesellschaftlichen Wandels zu erweisen. In ihrer methodischen Ausarbeitung verbindet sich die Begriffsgeschichte mit der Sozialgeschichte, ohne dass sie auf diese reduzierbar wäre. Beide stehen vielmehr in einer Art Wechselwirkung. Eine neue politische Sprache beziehungsweise neue politische Ideen können zum einen Ausdruck einer gewandelten sozialen Praxis sein, zum anderen Anstoß zu einem solchen Wandel erst geben. »Daß eine historische Klärung der jeweils verwendeten Begriffe nicht nur auf die Sprachgeschichte, sondern ebenso auf sozialgeschichtliche Daten zurückgreifen muß«, so Koselleck im programmatischen Aufsatz »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, »ist selbstverständlich, denn jede Semantik hat es mit außersprachlichen Inhalten zu tun«.5 Sein Ansatz der Begriffsgeschichte wird von Koselleck dadurch auch von einer rein philosophischen Begriffsgeschichte abgegrenzt, worüber er in seinem nun ebenfalls veröffentlichten Briefwechsel mit Hans Blumenberg stritt, der sich dagegen wehrte, wie Koselleck die „Sprache als Vollzugsorgan des Weltgeistes zu begreifen“.6 Die Begriffsgeschichte Kosellecks versucht, den semantischen Wandel politisch-sozialer Grundbegriffe über die Zeit nachzuvollziehen und dadurch geschichtlichen Wandel zu erfassen.
Ausgehend von der Begriffsgeschichte gelangte Koselleck zu seiner ungeheuer wirkmächtigen Beobachtung einer generellen gesellschaftlichen Beschleunigung während der von ihm so genannten »Sattelzeit« zwischen 1750 und 1850, die er als Phase des Übergangs von der tausendjährigen Feudalordnung hin zur modernen Welt begriff, in der der »Erfahrungsraum« und der »Erwartungshorizont« der Menschen zunehmend auseinandertraten.7 Man begann, sich – insbesondere in der Folge der transatlantischen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts und der industriellen Revolution – an rationalistischen, fortschrittsgläubigen geschichtsphilosophischen und moralischen Ideen zu orientieren. Diesen »Riss in der Zeit«8, der die moderne akzelerierte Welt hervorgetrieben hatte, sah Koselleck begriffsgeschichtlich durch drei Merkmale gekennzeichnet: erstens durch eine Verzeitlichung der politisch-sozialen Sprache und Vorstellungswelt, zweitens durch ihre Politisierung und drittens schließlich durch ihre Demokratisierung. Das zeigte sich für Koselleck insbesondere am neuen Kollektivsingular »Geschichte«, aber auch an Begriffen wie »Fortschritt« oder »Krise«.
Mit seinen Forschungen zur politischen Ästhetik und zur von ihm so genannten »politischen Sinnlichkeit« hat Koselleck, wie nunmehr deutlich wird, den »pictorial«, »iconic« oder auch »visual turn«, den die Geistes- und Sozialwissenschaften in den letzten drei Jahrzehnten vollzogen haben, bereits seit den 1960er Jahren vorweggenommen:
Seitdem die Kunstwissenschaft die politische Ästhetik als ein genuines Forschungsgebiet freigelegt hat, muß sie – anthropologisch gesehen – davon ausgehen, daß es auch eine politische Sinnlichkeit gibt. Denn ungeachtet der Entfaltung der Ästhetik als Wissenschaft des Schönen und der Künste behalten die fünf Sinne ihre seit Aristoteles unabdingbare Position bei. Sie bieten die gleichsam neutrale Minimalbedingung für jede Art von Erfahrung, wie auch immer diese religiös und kulturell, künstlerisch oder eben politisch überformt und gesteuert wird. Alle Künste, ob autonom oder im Dienste der Politik, bleiben an ihre sinnlichen – oder sinnenhaften – Voraussetzungen zurückgebunden.9
Im Anschluss an Aristoteles – aber vor allem an Viktor von Weizsäcker und Helmuth Plessner10 – fundiert Koselleck seine Theorie der politischen Sinnlichkeit anthropologisch. Die politische Sinnlichkeit des Menschen wird von ihm im Vergleich mit der Sinnlichkeit der Tiere konturiert:
Alle menschlichen Sinne bleiben, im Unterschied zu denen der Tiere, in den Horizont ihres sprachlichen Vorverständnisses eingebunden. Auch der Schrei der Verzweiflung enthält eine Mitteilung, auch das Seufzen im Leiden eine Botschaft, von schneidenden Befehlen und der wechselhaften Tonlage sogenannter Diskurse ganz abgesehen. Die Sprache bleibt der Hermeneut aller Sinne, auch wenn sie von deren naturaler Vorgegebenheit zehrt. Denn ohne die sinnlichen Modalitäten zwischen Lunge, Lippen, Zunge, Gaumen, zwischen Gehör und Gehirn – also ohne das Sprechen – lassen sich auch die anderen Sinne nicht versprachlichen.11
Schon auf dieser fundamentalen anthropologischen Ebene zeigt sich die enge Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Sprache, Ästhetik und Begriff, die hier als Bewegungshypothese eingangs geäußert wurde. Gerade über diese grundlegenden anthropologischen Voraussetzungen der Sinnlichkeit, so Koselleck weiter, werde ein geteilter politischer Erfahrungs- und Erwartungsraum des Menschen geschaffen, der gemeinsames Handeln ermöglicht:
Durch die politische Sinnlichkeit wird ein Erfahrungsraum eingegrenzt und abgesteckt, der ein Minimum an Gemeinsamkeit sichert, um handlungsfähig zu werden und zu bleiben. Die fünf Sinne habitualisieren dann Einstellungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen, die zugunsten gemeinsamer Aktionsfähigkeit nicht tangiert, geschweige denn überschritten werden dürfen.12
Zugleich zeigt sich für Koselleck jedoch wie bei den Begriffen, dass »sich die Sinnlichkeit selber, aktiv oder rezeptiv, nur geschichtlich, und das heißt nur als veränderlich und veränderbar, artikulieren kann«.13 So wie es heuristisch eine Geschichte vom Wandel der Begriffe gibt, ja geben muss, so gibt es für ihn nun auch eine Geschichte des Wandels der politischen Sinnlichkeit.
Für die politische Sinnlichkeit macht Koselleck anhand des politischen Totenkults – der europäischen Denkmallandschaften für die Toten von Krieg, Gewaltherrschaft und Terror, die er akribisch über Jahrzehnte fotografisch dokumentierte und sammelte – daher ebenfalls in der Sattelzeit eine bedeutende Wandlung – einen »Riss in der Zeit« – aus:
Dieser zunächst schleichende, manchmal schnell vorangetriebene Wechsel des Totenkults greift tief in das Verhalten, in das Gemüt und in das Hirn der Beteiligten ein, kurzum verwandelt die politische Sinnlichkeit der modernen Gesellschaften. Der gewaltsame Tod wird als solcher aufgewertet. Der dynastische Totenkult zielte noch primär auf die Kontinuität der Herrschaft oder auf deren Ausweitung, sei es durch kriegerisch erzwungene, sei es durch friedliche Erbfolge. Der neue, der demokratische Totenkult, der sich über anderthalb Jahrhunderte hinweg langsam durchsetzt, zielt auf die Einrichtung einer nationalen, bzw. um die deutsche Sprachvariante aufzugreifen, einer völkischen Identität, deren Unterpfand in der Todesbereitschaft der dafür sich einsetzenden Soldaten als ›Bürger‹ oder der ›Volksgenossen‹ als Soldaten zu finden war. Der gewaltsame und so akzeptierte Tod wurde zum Legitimitätstitel der neuzeitlich sich etablierenden Nationen – der Erben der ehedem dynastischen Vaterländer.14
Wie in der Begriffsgeschichte und ebenfalls nach den transatlantischen Revolutionen einsetzend sieht Koselleck auch hier, das heißt bezogen auf den politischen Totenkult, Prozesse der Verzeitlichung, der Politisierung und vor allem der Demokratisierung der Sinnlichkeit am Werk: von der christlich-jenseitigen Verehrung der ewigen, gottgewollten Herrschaft des Monarchen zur ganz diesseitigen Verehrung des demokratischen Opfers der Bürger und »Volksgenossen« für die Nation in Krieg und politischem Kampf.
Es gibt allerdings eine interessante Differenz zwischen Kosellecks Begriffsgeschichte und seiner Geschichte der politischen Sinnlichkeit. In seinen Untersuchungen zu Letzterer erkennt Koselleck nämlich einen zweiten großen und historisch bedeutsamen »Riss in der Zeit«, verursacht durch die Weltkriege, die totalitären Diktaturen und insbesondere durch die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus. Seit 1945 gelingt es laut Koselleck der modernen politischen Sinnlichkeit nicht mehr, Sinn durch Verzeitlichung, Politisierung und Demokratisierung herzustellen. Der demokratische Tod für die Nation beziehungsweise fürs Volk, der seit der Sattelzeit die politische Sinnlichkeit geprägt hatte, verliere angesichts der Abermillionen vernichteter Menschen – Männer, Frauen und Kinder, Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle, Polen, Russen – jeden Sinn. Wiederum sind die europäischen Denkmallandschaften für Koselleck Initiatoren und Indikatoren des Wandels von »sinngebenden« zur »sinnfordernden« Ikonologien:
So hat sich in der westlichen Welt, wenn auch nicht überall und durchgängig, eine Tendenz verstärkt, den Tod in Krieg oder Bürgerkrieg nur noch als sinnfordernd, nicht mehr als sinnstiftend darzustellen. Es bleibt die Identität der Toten mit sich selbst, deren Denkmalsfähigkeit sich der Formensprache einer politischen Sinnlichkeit entzieht.15
Immer abstrakter würden die Denkmäler, erschöpften sich in der Visualisierung von Leere – sofern sie ihrer Aufgabe überhaupt gerecht zu werden vermögen.
1996 gab Koselleck der Zeitschrift Kunstforum ein Interview und wurde unter anderem dies gefragt: »Sie sind berühmt durch Ihr historisches Begriffswörterbuch. Könnte man sagen, daß sich Ihr Interesse bei den Denkmälern von einer terminologischen Semantik zu einer visuellen verlagert hat?« Seine Antwort lautete: »Genau. Zu einer Semiotik der Sprachlosigkeit. Das ist die Herausforderung. Besonders bei den Holocaust-Gedenkstätten. Da ist die Sphäre einer Nicht-Mitteilbarkeit, einer Nicht-Aufreißbarkeit zentral.«16 In Geronnene Lava können wir diesen Denkweg Reinhart Kosellecks nun nachvollziehen. Einige Indikatoren sprechen dafür, dass wir noch immer in diesem »Riss in der Zeit« leben.