Niklas Luhmanns Vermächtnis ist bis heute durch eine eigentümliche Diskrepanz gekennzeichnet: Seiner überragenden Bedeutung als Theoretiker der modernen Gesellschaft steht die Tatsache gegenüber, dass sein Werk innerhalb seines Faches, der Soziologie, als vergleichsweise randständig gilt. Selbst in den neunziger Jahren, als er längst ein internationaler Theorie-Star war, soll sich in seinem Bielefelder Oberseminar nur eine spärliche Gefolgschaft versammelt haben. Eine Luhmann-Schule, deren disziplinäres Gewicht auch nur annähernd dem Rang seiner Theorie entspräche, hat sich daher niemals etablieren können. Vielleicht wird das zusätzlich dadurch erschwert, dass seine ohnehin nicht gerade zahlreichen Schüler in der Art der Bezugnahme auf ihren Lehrer obendrein uneinig sind.
Die einen ziehen es vor, sich auf Luhmanns Spätwerk zu berufen, und knüpfen vor allem an die Theorie des Beobachters und den Spencer-Brown’schen Formkalkül an. Seit Beethoven gelten Spätwerke hierzulande als besonders gewichtig, kryptisch und genial. Für die Anhänger des späten Luhmann trifft genau das auf seine Schriften aus den neunziger Jahren zu. Ihnen stehen jene gegenüber, in deren Augen die Theorieevolution ihren Zenith in diesem letzten Stadium schon überschritten hatte. Daher bevorzugen sie die frühen Schriften, die ungefähr bis zu Luhmanns autopoetischer Wende in den achtziger Jahren reichen. Eine besondere Vorliebe erlauben sich manche von ihnen sogar für die ganz frühen, organisationssoziologischen Texte, die Luhmann während oder kurz nach seiner Zeit am Oberverwaltungsgericht in Lüneburg schrieb. Die An- und Umbauten, die er später an der Theorie vornahm, erscheinen ihnen nicht ausnahmslos als zwingend. Alle wesentlichen Entscheidungen, so behaupten sie, habe er bereits ganz am Anfang gefällt.
Diese Lesart kann sich jetzt auf die neueste Nachlasspublikation stützen, die den Titel Systemtheorie der Gesellschaft trägt. Die Bedeutung, die Luhmanns Frühphase als Verwaltungswissenschaftler für sein großes Projekt einer Theorie der Gesellschaft hatte, tritt in diesem zweiten Gesamtentwurf seines Unternehmens aus den siebziger Jahren nämlich besonders deutlich hervor. An prominenter Stelle, also relativ weit vorne im Manuskript beziehungsweise Buch, unterscheidet Luhmann die im folgenden nie wieder aufgegebenen drei Ebenen, auf denen sich soziale Systeme bilden können: durch Interaktion zwischen Anwesenden; in Organisationen, also Behörden, Vereinen, Parteien oder Staaten; und schließlich auf dem Niveau des großen, umfassenden Gesellschaftssystems. Und während er in späteren Fassungen dazu neigte, die unterschiedlichen Leistungen dieser Systemfamilien zu betonen, stehen hier ihre funktionalen Äquivalenzen im Vordergrund.
Luhmanns frühem, bahnbrechendem Grundgedanken zufolge lief es ja in allen Fällen auf die eine oder andere Weise auf dasselbe hinaus: Soziale Systeme werden erstens nicht durch einen wie auch immer gearteten Zweck zusammengehalten, sondern entstehen durch die zumindest auf den ersten Blick frappierend simple Tatsache, dass irgendwo über einen längeren Zeitraum ein Innen von einem Außen unterschieden wird. Zweitens halten Systeme diese Basisunterscheidung nicht durch die Ausübung von Zwang oder durch die Abgrenzung eines Territoriums aufrecht, sondern indem es gelingt, bestimmte Verhaltenserwartungen in ihrem Innern zu stabilisieren. Nicht Herrschaft, heißt das mit anderen Worten, sondern Erwartungen, die wiederum Erwartungen hervorrufen, sind das Bindemittel, durch das soziale Ordnung möglich wird.
Wie nun aus dem neuen Band hervorgeht, hatte Luhmann diese Mechanismen zuerst in Organisationen beobachtet. Hier waren sie nämlich nicht nur für sämtliche Beteiligten ersichtlich, sondern zeigten sich auch in paradigmatischer Deutlichkeit. Die Grenze zwischen Innen und Außen, schreibt Luhmann, werde in organisierten Sozialsystemen durch das Instrument der Mitgliedschaft geregelt. Und Mitgliedschaft bedeute nichts anderes, als sich zumindest mit einem Teil seines Verhaltens auf bestimmte formal explizierte Erwartungen einzulassen. Auch wenn es sich bei Organisationen um den »spätesten und voraussetzungsreichsten Typus« sozialer Systeme handele: Aufgrund dieser Eigenschaften bildeten sie dennoch deren »Prototyp«. Für Gesellschaftskritiker, die ihren Gegenstand als Herrschaftszusammenhang konzipierten, war schon Luhmanns Soziologie reziproker Erwartungen schwer erträglich. Dass ihm die Bürokratie dabei als Blaupause diente, machte sie vollends zur Provokation.
Ist die Radikalität von Luhmanns Theorieunternehmen darauf zurückzuführen, dass es ihm gelang, sich als Verwaltungsbeamter in der bundesdeutschen Provinz gegen das Juste Milieu des intellektuellen Zeitgeists abzuschirmen? Ja und nein, denn man könnte mit gleichem Recht behaupten, das Oberverwaltungsgericht Lüneburg und die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer seien veritable Brennpunkte dieses Zeitgeists gewesen. Nicht nur beim Berliner SDS oder im Frankfurter Institut für Sozialforschung begann sich nämlich damals ein neues Kerngeschäft herauszuschälen: So wie heute allerorten der »Neoliberalismus« entlarvt wird, widmeten sich selbst konservative Intellektuelle wie Arnold Gehlen in den sechziger Jahren der Diagnose der »verwalteten Welt«. Sie konnten sich dabei auf die Tradition einer Kulturkritik stützen, die über Max Weber hinaus bis ins 19. Jahrhundert zurückreichte und der zufolge die fortschreitende Bürokratisierung der Lebensverhältnisse als – möglicherweise unvermeidliche – Pathologie der modernen Gesellschaft anzusehen war.
Diese Diagnose, die auch der Faschismustheorie der Frankfurter Schule aus der Zwischenkriegszeit zugrunde lag, war Mitte der sechziger Jahre plötzlich wieder hochaktuell. Erst hatte Bundeskanzler Ludwig Erhard im Frühjahr 1965 die Geburt der »formierten Gesellschaft« ausgerufen. Als die CDU dann eineinhalb Jahre später in die Große Koalition einzog, meinten kritische Zeitdiagnostiker, die Puzzleteile zusammensetzen zu können: Während sich Luhmann 1966 in Münster mit seiner Schrift über Funktionen und Folgen formaler Organisation habilitierte, brach in ihren Augen in der Bundesrepublik ein neuer Faschismus an.
Nachzulesen ist das im Transkript des berühmten »Organisationsreferats«, das Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl wenige Monate nach dem Tod von Benno Ohnesorg auf der SDS-Delegiertenkonferenz im Herbst 1967 hielten. Ihre Tiefenhermeneutik der Bundesrepublik kulminierte in der Botschaft, die Stunde der Wahrheit des Spätkapitalismus sei gekommen. Das von schrumpfenden Profitraten in die Defensive getriebene Kapital sehe sich gezwungen, die Mechanismen der liberalen Demokratie auszuhebeln, um seine Macht durch unmittelbare, »bürokratische« Herrschaft zu sichern. Die Gesellschaft, meinten die Studentenführer, schließe sich »zur staatlichen Gesamtkaserne« zusammen. Um den unabwendbaren »Kampf gegen die Institutionen« aufzunehmen, riefen sie zur »Propaganda der Tat« in den Metropolen auf.
Im April 1968 eröffnete Theodor W. Adorno den 16. Soziologentag in Frankfurt mit einer nahezu identischen Diagnose – allerdings ohne irgendwelche militanten Schlüsse daraus zu ziehen. Mit dem »Wort der formierten Gesellschaft«, erklärte er, sei dem mittlerweile von Kiesinger beerbten Erhard seinerzeit ein fataler Lapsus unterlaufen, habe er mit dieser Wendung doch »unvorsichtig ausgeplaudert«, dass das System im Begriff stehe, in direkte bürokratische Herrschaft überzugehen. Die Studenten, die zum ersten Mal bei einem Soziologentag als Diskussionsteilnehmer in den Plenarsitzungen zugelassen waren, spendeten tosenden Applaus.
Zwei Tage nach Adornos Eröffnungsvortrag präsentierte der noch weitgehend unbekannte Niklas Luhmann sein Projekt, eine Theorie der Gesellschaft auszuarbeiten, in einem kleinen Seminarraum vor spärlichem Publikum zum ersten Mal der soziologischen Fachöffentlichkeit. »Moderne Systemtheorie als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse« lautete der Titel seines Referats, das später auch den gemeinsamen Suhrkamp-Band mit Habermas eröffnete. Laut einem Augenzeugen schleppte sich die anschließende Diskussion »eine Viertelstunde und verebbte«. Lediglich einer der Zuhörer konfrontierte Luhmann mit der Behauptung, die in den siebziger Jahren zum Gemeinplatz wurde, bei seinem Ansatz handele es sich in Wahrheit um »manipulative Verwaltungswissenschaft«.
Zutreffend ist, dass die Kritik der verwalteten Welt an Luhmanns Theorie wie an Teflon abperlte. »In der bürgerlichen Gesellschaft«, so eine lakonische Nebenbemerkung in der Systemtheorie der Gesellschaft, »schiebt sich Organisation in nahezu allen Funktionsbereichen der Gesellschaft zwischen das Gesellschaftssystem und seine Interaktionssysteme. Die Diskrepanzen der Systemanforderungen nehmen zu und finden zum Beispiel Ausdruck in einer Negativwertung des literarischen Topos Bürokratie.«
Obwohl Luhmann also, wenn überhaupt, dann von hinten auf den Zeitgeist zielte, markiert sein Auftritt auf dem Soziologentag in Frankfurt den Beginn seines Ruhmes. Adorno, dessen Theorie dem »literarischen Topos Bürokratie« ein Gutteil ihres Pathos verdankte, scheint so beeindruckt gewesen zu sein, dass er Luhmann einlud, seine Lehrstuhlvertretung im Wintersemester 1968/69 zu übernehmen. Siegfried Unseld wiederum setzte sein Wissenschaftslektorat auf den neuen Denker an. »Als einziger«, informierte er per Aktennotiz, sei unter den Referenten »der junge und noch relativ unbekannte Professor Dr. Niklas Luhmann« aufgefallen. »Er wäre der Mann, der für die Reihe THEORIE 2 eine Systemtheorie der Gesamtgesellschaft schreiben könnte.« Wie wir dem editorischen Nachwort zum jetzt publizierten Manuskript entnehmen können, saß Luhmann 1968 tatsächlich an einer ersten Version seiner monumentalen Theoriekathedrale, deren Bau er kurz vor dem Ende der auf dreißig Jahre veranschlagten Laufzeit mit den beiden Bänden von Die Gesellschaft der Gesellschaft im Jahr 1997 fristgemäß abschließen konnte.
Doch auch Rudi Dutschke, in dessen apokalyptischem Horizont solche apostolischen Zeitspannen längst nicht mehr vorgesehen waren, sollte mit seiner Faschismus-Prognose auf tragische Weise Recht behalten. Am 11. April 1968, einen Tag nachdem Luhmann in Frankfurt seine Theorievision erläutert hatte, gab der von rechtsextremen Kreisen agitierte Attentäter Josef Bachmann vor der Westberliner SDS-Zentrale seine Schüsse auf ihn ab.