»Es kann zu Geschehnissen kommen, über denen Fragezeichen schweben.«
Ulrich Holbein: Knallmasse
Fahren wir also nach Berlin. Zum Finale des diesjährigen open mike. Ich wurde eingeladen, mit einem Text, der »artifiziell« und »verspielt« sei und vom Leser viel Aufmerksamkeit verlange (wie man nachher anmerkt). Allein vom open-mike-Publikum heißt es ja: Sitzfleisch und aufmerksam wie dreihundert Schießhunde. Kann losgehen.
Artmann im Text, Artmann im Gepäck, Artmann auf dem Beifahrersitz. Vorlaut und dreist, aber was hätte ich tun sollen? – Ohne ihn wäre meine Geschichte gar nicht möglich gewesen.
»Artmann? Du willst mit nach Berlin?«
»Sicher. Ohne mich hättest du deinen Text doch gar nicht schreiben können. Willst du da ohne mich fahren?«
Eigentlich schon. Natürlich nicht. Und tatsächlich könnte er in Berlin von Vorteil sein, der Artmann.
»Artmann?«
»Ja?«
»Hör auf, an meinem Hemd rumzuzupfen! Du machst mich ganz kirre!«
»Du bist doch schon kirre. Ich justiere nur nach.«
»So was Ähnliches habe ich in meine Geschichte ge…«
»Wir müssen!«
Berlin! Endlich die Hauptstadt nach so viel Autobahn, und dann auch noch Neukölln, wo es (wie man sich erzählt) ganz besonders franzbiberkopft. Die Bewohner roh und froh und freundlich, sogar die Hundescheiße auf dem Bürgersteig irgendwie nachbarschaftlich heimelig. In einem Hinterhof schließlich der Heimathafen, in den wir geradezu einlaufen.
Darf er riskiert werden, der Probeblick in den Saal, wo wir zwanzig Finalisten während der kommenden zwei Tage der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden? Bühne leer, das Schafott noch nicht aufgebaut. Und gleich wieder auslaufen: zu den Workshops.
Text&Stimme: Brust raus, Bauch rein (genau wie Oma immer sagte). Füße auf den Boden. Hintern vorne auf die Sitzfläche, nicht lümmeln, nicht kippeln. Und der uns das alles beibringt, ist niemand anderes als der Schließer aus dem Frauenknast. Ich bin ganz verschüchtert. Gut, dass ich meinen Artmann dabeihabe, im Text, im Gepäck, neben mir.
»Artmann?«
»Ja?«
»Hier gefällts mir nicht. Zu voll, zu laut, von der Musik hört man nur den Bass. Artmann, ich glaube, hier wird kein –«
Artmann?! Wo ist er jetzt schon wieder hin?
»– Twist getanzt.«
Christopher Lee (friedeseinerasche) reiste 1939 nach Versailles, um von der Wohnung eines Freundes aus einen Blick in den nahen Gefängnishof zu erhaschen, in dem zum letzten Mal ein verurteilter Straftäter (sechsfacher Mord) mit der Guillotine enthauptet wurde. Auch er ein bisschen Artmann.
Die Lesung (mein großer Auftritt) wie im Rausch vor sechshundert Augen und sechshundert Ohren – die (doch das erfährt man wiederum erst im Nachhinein) eigentlich gar nicht mehr aufnahmefähig sind nach drei Stunden Jungliteratur – bin ich doch der letzte Lesende am Samstagabend.
»Artmann?«
»Ja?«
»Da waren ein paar Texte dabei, gegen die ich mich nicht schämen würde zu verlieren.“
»Jaaa. – Aber ärgern tätest du dich schon, gell?«
Obacht jetzt! Die Verkündung der Preisträger. – taz-Publikumspreis! Was nachher einige verwirrte (wie oben erwähnt), weil eben ein komplexer Text, dem sicher nicht einfach zu folgen war. Da kann man dem Publikum nur zurufen: Schießhunde ihr, dass ihr zu so später Stunde (19:15 Uhr) überhaupt noch aufnahmefähig wart!
»Artmann!«
»Ja?«
»Bleib sitzen! Es hieß Philip Krömer, mein Name, das ist mein Preis. Ich wurde auf die Bühne gerufen.«
»Ohne mich wäre deine Geschichte doch gar nicht möglich gewesen.«
»Artmann! ARTMANN!«
Da ist er einfach aufgestanden und hüpft einszweidrei auf die Bühne, nimmt den Preis entgegen, lächelt verschmitzt (der WURM!) und schüttelt Hände, und nachher wird er auch noch Interviews fürs Radio geben. Und keinem – KEINEM – fällt der Unterschied auf.
An den Folgetagen gibt es tatsächlich ein bisschen böses Blut in den Zeitungen, aber das (so sagen sie) fließe immer.
Frankfurt! Die erste Preisträger-Lesung. Frankfurt, wo mir beim Verlassen des Bahnhofs einer mit frisch entstelltem Gesicht entgegentritt und vom Ende der Welt kündet. In den nächsten Stunden solls geschehen. Mit Flammenregen und Kot auf den Bürgersteigen (den hatten wir doch schon in Berlin).
Vielleicht wollte er auch nur ein bisschen Kleingeld, keiner weiß es.
Frankfurt! Wo ich aus dem Hotelzimmer die Nackten und die Unwissenden im Haus gegenüber betrachte (Holiday Inn). Wo der Blick von der Dachterrasse – einfach malerisch ist: unten die Altbauten, dahinter, als ferne Riesen, die Wolkenkratzer. Malerisch. Ich würds mir aufhängen. Und zum Frühstück Antipasti. Vielleicht sind wir doch untergegangen und das ist das Paradies: Ausblick malerisch und zum Frühstück Antipasti. Eigentlich nicht übel.
Im Zug zurück dann nur ein freier Sitzplatz. »Artmann, der ist auf meinen Namen reserviert. Hier stehts: P H I L I P K R Ö M E R!«
Sitzt er schon. Und ich auf dem Koffer im Gang vorm Klo. Bis nach München. Schlafen mir ständig die Haxen ein.
»Artmann. Die nächste Lesung? Warte, ich schau in die Unterlagen … ist in Wien.«
»Wien! Heimat! Hofburg, Sachertorte und Fiaker fahren. Was meinst du, was wir da machen? Da spendier ich dir eine Burenwurst und zeig dir die schönsten Ecken. Das machen wir.«
»Du kommst also wieder mit? Musst nicht, wirklich, ich komm auch alleine –«
»Ich bitte dich, Philip, ohne mich – wärst du doch kaum noch möglich.«
Womit er nicht ganz unrecht hat.
Tage später eine nachmittägliche Autobahn, eine lang gestreckte Kurve, und dann direkt hinein: ins Erhabene. Mein Wort, ich habe viele Himmel gesehen (hansguckindieluft, wenn schon kein zappelphilip), und von allen ist dieser der beeindruckendste. Ein unübertroffenes Wolken- und Farbenspiel, eine Detailfülle, dazu weitere Wölkchen, die schwarz und in vertrauten Formen unterm Himmel hängen. Im Panoramaformat. Unmöglich, das hier (das Alles) in den verbleibenden Sätzen wiederzugeben. Darum schließe ich mit dieser Unmöglichkeit.
Und der Artmann? – Hält bei dem Anblick endlich mal die Klappe.
Eigentlich nicht übel.
Eigentlich alles gut gelaufen.
Die Collage auf der Startseite basiert auf einem Foto von Wolfgang H. Wögerer (CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)