Neulich habe ich von einem Bodenseekünstler gelesen, der jahrzehntelang nacheiszeitliche Idyllen gemalt hatte, in den sechziger, siebziger Jahren: Schilfspiegelungen, Schwäne. Als Mitte der achtziger Jahre die Tiefbaustelle des S-Bahnhofs Zürich aufgerissen wurde, verließ er das dämmerreiche Ufer, reiste täglich in die Stadt. Er beschaffte sich Westen in Leuchtfarben, setzte sich mit der Staffelei an seinen persönlichen Kraterrand und malte fortan das offene Baufeld des künftigen Knotenpunktes, nächtlich ausgeschreckt von Scheinwerfern.
Lasse ich mich auf Zeilen und Abschnitte des Wettermachers ein, werde ich zurückgesogen in die Druck- und Aufbruchsjahre, denen sie ihr Zittern verdanken. 1987, nach der Matura, zog ich von Wattwil nach Zürich. In der Stadt gab es letzte Schreibmaschinen-Mechaniker, ältere Männer in kleinen Buden, im Zürcher Niederdorf hütete einer von ihnen Nizons Rom-Apparatur, die dieser bei ihm vergessen haben soll. Auf weich federnden Maschinen entstanden erste Texte.
Der Hauptbahnhof war Baustelle, Salven der Kompressoren lagen in der Luft, und unterirdisch wurde gewühlt (bei laufendem Bahnbetrieb). Der Informationsbeamte mit beachtlichem Bauch und Hut (und dort der Aufschrift: INFORMATION) – er stand zwischen den Passanten, Gewährsmann auf immer anderer Verkehrsfläche, Letztoberfläche. Taktfahrplan: Der Stundentakt wurde eingeführt. Laufende Umschulungen. Versuche, den Bahnhof zu beschreiben. Landschaft tauchte danach erst auf, dahinter –
Das Toggenburg: niederschlagsreich, Landschaft mit fließenden Gewässern. Zürich: Seeflussstadt. Dazwischen: eine Bahnstunde. Fahrten entlang des Seeufers.
Erste Fassungen des Manuskripts gruppierten sich um den Titel April. Es änderte Gestalt und Gattung laufend. Lyrische Keime und epische Flächen, tippschwarz bis an die Ränder.
1990 kaufte ich meinen ersten Computer (würfelartig), ich übertrug die getippten Fassungen auf den kleinen, blaugrauen Bildschirm. Die Texte wurden Flüssigkeiten, sie ließen sich durchschwimmen. Das Generalabonnement der Schweizerischen Bundesbahnen SBB – leere Züge an Nachmittagen, offene Fenster, Kaffee. Innerhelvetisches Hin und Her, immer via Zürich. Texte verfrachtete ich in alle Landesteile, besuchte Freunde, einer lebte in Neuchâtel, einer in Bern, einer im Tessin. Selbstauferlegte Gleichgewichtsübung: Den Würfel (in der Umhängetasche) und die Schreibmaschine (mit Deckelgriff) schleppte ich immer mit. Die Angewohnheit, Manuskripte, an denen ich arbeite, bei mir zu haben, ist geblieben −
»Das Wetter wechselt Worte«: Mit diesem Satz ergab sich ein Legato. Die weißen Hochgeschwindigkeitszüge der DB fuhren 1991 in Zürich ein, just, als es darum ging, den Text von Zürich nach Frankfurt zu überführen, Lektoratsarbeiten mit Christian Döring. Glückhafte Gesamtschau. Vierstundenfahrten: Text geht durch Kopf.
Im Mai 1993 las ich zum ersten Mal in Deutschland aus dem Manuskript, im LCB in Berlin, anlässlich des Döblin-Preises; das Buch war auf unbestimmt verschoben worden. Nach der Lesung die Beschleunigung, es sollte nun doch bereits im Herbst 93 erscheinen. Beratungen mit dem Dorfschmied Herzig in Wattwil, an dessen Werkstatt ich wenige Tage später vorbeikam. Telefonische Beratungen mit Gerold Späth (der mich mit Christian Döring in Kontakt gebracht hatte) und Peter Bichsel (ihn hatte ich an den Solothurner Literaturtagen kennengelernt). Schmied und Schriftsteller rieten mir, das Wagnis einzugehen. Das Manuskript überarbeitete ich in wenigen Tagen, fast ohne Schlaf. Letztgeschwindigkeiten glaubte ich, in den Text zu lenken. Ich bilde mir ein, sie hätten sich nach der Veröffentlichung freigesetzt −
»Ein Initialereignis − ideal für den Verleger«, sagte Siegfried Unseld lachend. Lesung beim Suhrkamp-Kritikerempfang. Beratungen im Büro seines Hauses, während von unten, aus dem Empfangsraum, bereits Stimmen zu hören waren. »Lass dich nicht irritieren, es sitzen alle da, einige werden sich bewegen, während du liest, es hat nichts mit dir zu tun.« Allgemeine Aufregung, Freund und Feind im Haus, das ganze Dorf.
Alles bewegte sich.
Nach Mitternacht klopfte Unseld an die Zimmertür, wir tranken späten Wein.
Vom Ulmer Münster aus ist bei gutem Wetter der Säntis zu sehen. Vom Säntis aus das Ulmer Münster.
Lesereisen, Monate im ICE, in deutschen Regionalzügen, Städte und Hotels, keine Wikipedia-Einführungen der Veranstalter. Dieses Buch hat mich weit reisen lassen – die Heimwege wurden immer länger. Aprilwetterzellen im Text, sie ließen sich nicht beliebig transferieren – Grenzen der Übersetzbarkeit. Wetter und Zeit: in den lateinischen Sprachen dasselbe Wort. Vier Jahre lang arbeitete Colette Kowalski an der Übersetzung ins Französische, sie legte ein eigenes vocabulaire an. Rabelais, Patois. Als ich sie in Lausanne kennenlernte, begegnete ich einer nahen Verwandten. Nichts bleibt verborgen.
Der Titel war erst in einer späten Fassung des Manuskripts aufgetaucht. Ein Freund hatte ihn vom Blatt gepflückt. Selbst im entlegensten Winkel kann ich dieser Zuschreibung nicht entkommen: Wettermacher. Das Wort übertitelt mich lachend (und alles, was ich schreibe) –
PS:
Herbst 2013. Eines Nachmittags – ich sitze …
Herbst 2013. Eines Nachmittags sitze ich im Hauptbahnhof Zürich in einem Espresso-Lokal über den seitlichen Rolltreppen (bei den Gleisen 14-18), sie führen hinunter zum − ja: bereits alten S-Bahnhof. Eine Hockerreihe vor einer Fensterbar mit Blick in die Querhalle. Neben mir der Kameramann eines französischen Filmteams, er will das Geschehen auf den Rolltreppen einfangen, Auftauchende, Hinuntergleitende − »très international«, sagt er. Er baut seine Kamera in den flaueren Minuten auf. »Nur zur Information: Wir haben Halbstundentakt«, sage ich, »wir sind nun zwischen zwei Taktspitzen, warten Sie besser auf die Minuten 50-05, der Puls wird wieder anschwellen, je vous jure.«
In den nächsten Jahren kommt der Viertelstundentakt.
Wann eigentlich?
Ich greife zum Telefon und in die Netze, Viertelwissen gruppiert sich flugs und hutlos.
Dank der neuen Durchmesserlinie können bestehende Verbindungen zwischen Westschweiz und Ostschweiz beschleunigt werden.
»Voilà, monsieur: Bauen Sie Ihre Kamera auch vorne bei der Sihlpost auf, bei Gleis 3, über der Baustelle des Durchmesserbahnhofs, der größten innerstädtischen Baustelle der Schweiz. Suisse occidentale und suisse orientale werden neu verschaltet, bei laufendem Bahnbetrieb. Eine Tiefbaustelle, teilweise über, teilweise unter der Sihl, sie ist Zwischenfluss. Vibrationen, es gibt Türen in provisorischen Wänden. Incroyable: Die Baustelle fraß vor Wochen mein altes Velo, ich hatte es am massiven Geländer am Trottoir über dem Flussbord angekettet, dies wurde offenbar als Opfergabe verstanden, Baustelle fraß Trottoir samt Geländer und Vehiculum.«
Alle Durchmesserlinien sind wahrscheinlich miteinander verbunden. Der »London-Peking-Tunnel« ist eben eröffnet worden, wie mein Telefon viertelweiß. Bahntunnel unter dem Bosporus. Habe diese Rätsel-Baustelle im Hafen von Kadɪköy in den letzten Jahren immer wieder belagert (oder bin sie großräumig umgangen). Abgesperrtes Gelände, kaum einen Quadratkilometer groß. Kleine Zugänge in die Tiefe. Niemand informierte die Passanten. Es wird möglicherweise nur einen Durchmesserbahnhof geben.