Robert Walsers Briefe in Grundbegriffen
Bei der Beschäftigung mit Robert Walsers Briefen fielen einem seiner Herausgeber Begriffe ein und auf, die hier, belegt mit Textstellen und zum allgemeinen Gebrauch, von A bis G mitgeteilt seien.
Ambivalenz, anregende Form der semantischen Unklarheit, grundlegende und folgenreiche Entdeckung der modernen Ästhetik. In Walsers brieflicher Korrespondenz finden sich ambivalente Stimmungs-, Themen- und Rollenwechsel, außerdem das Oszillieren zwischen Überheblichkeit und Selbstverkleinerung, vor allem aber ein Spiel mit Ferne und Nähe, das seine Adressatinnen und Adressaten auszuhalten hatten.
Anrede, obligatorisches Formelement des Briefs, dessen Formulierung gesellschaftlichen Normen unterliegt. Übertrieben respektvolle Anreden können je nach Kontext ironisch wirken.
An einen einflussreichen Literaturkritiker:
»Lieber, großmächtiger Herr Dr Rychner« (Brief 687)
An eine langjährige Freundin:
»Liebe Frau Mermet, vornehmste aller Frauen« (Brief 615)
Bellelaykreislauf, metaphorische Bezeichnung für ein ganzes Bündel von Austauschbeziehungen und Bewegungsvorgängen, die über längere Zeit bestanden, anhielten und mithin eine Lebensepoche Walsers prägten. In Bellelay, »zum Spazieren wunderschön« (Brief 210), lebten und arbeiteten Walsers Lieblingsschwester Lisa sowie seine Freundin Frieda Mermet, Letztere als »Oberbefehlshaberin der Lingerie« (Brief 499).
Bettelbrief, bedeutende, aber allgemein schambehaftete Untergattung des Briefs, die typischerweise im Wechsel mit Dankesbriefen auftritt. Walser macht nicht selten Gebrauch vom Bettelbrief, kennt die Risiken, die damit verbunden sind, und reflektiert diese in einem auf Schokoladenpapier geschriebenen philosophischen Brief über Gabe und Gegengabe (Brief 423). Walsers Argumentation geht aus von der Dankbarkeitspflicht und führt über eine Kryptowährung aus Buchstaben schließlich zur einfachen Einsicht, dass Anerkennung unter Menschen zählt.
Blödsein, menschliche Charaktereigenschaft, die Louis Aragon ironisch auf die Wirkung von Poesie zurückführt. Walser, der davon bei Ernst Robert Curtius las, meint dazu in Brief 685:
»Im Begriff Blödsein liegt eben etwas Strahlendschönes – und Gutes, etwas unsäglich Feinwertiges, etwas, das gerade die Inteligentesten [sic!] sehnsüchtig gesucht haben und fernerhin sich zu eigen zu machen suchen.«
Capriccio, rhetorische Figur, die von gewagten, frechen Einfällen lebt und auf das Überraschende zielt. Walser pflegt diese Figur zum einen in der Wortwahl, so zum Beispiel, wenn er die Produkte seiner literarischen Arbeit als »Gereiftheiten, Federentschlüpftheiten« bezeichnet. Zum andern in der Gedankenführung:
»Was will ein Dichter zu sagen haben, wenn er nicht einmal in seinem Leben die ›Hand des Todes‹ gespürt hat? Es gibt heute eine Kunst für das Kind, eine für die Frau, eine für den Weihnachtstisch, eine für den Kaffeehausmenschen, eine für den, eine andere für einen andern. Hol’s der Kuckuck. Aber ich weiß eigentlich nicht, was ich habe sagen wollen.« (Brief 135)
Drittbriefe, Bezeichnung für Briefe, die eine mit Walser in Korrespondenz stehende Person an eine Dritte oder einen Dritten richtet. Solche Briefe finden sich im Anhang der soeben erschienenen Briefausgabe. So lässt sich nachlesen, wie Christian Morgenstern, der von Walser begeistert war, dessen Roman Geschwister Tanner charakterisiert hat:
»Es ist überhaupt ein fast mehr russisches als deutsches Buch, es hat Partieen von wahrer Heiligkeit und dazu etwas von jener tiefen Volksnatürlichkeit, die, hoffe ich, unserer Litteratur eine ganz neue Jugend bringen wird.« (Dokument 63)
Eros, universale Kraft. Walser hat keine Liebesbriefe geschrieben. Aber er »hat den Brief als reichen Lustgarten der Sprache und Schrift kultiviert« (Ulrich Weber, in: Der Bund, 17.10.2018).
Fiktionaler Brief, Form der Rollenprosa. Einer von Robert Walsers fiktionalen Briefen trägt die Überschrift Ein unartiger Brief. Der fiktive Briefschreiber weist darin in schroffen Worten ein Kompliment zurück, das eine ebenfalls fiktive Dame brieflich geäußert hat. Diese Offenherzigkeit entschuldigt er damit, dass er sich ja »nicht an Sie, sondern an die Öffentlichkeit« richte. Solche Späße trieben vor Walser schon die Romantiker.
Grußformel, obligatorisches Formelement des Briefs, das Walser besonders ernst nimmt:
An seine Freundin (→ Anrede, → Bellelaykreislauf):
»Und so grüßt Sie denn […] mit der Allüre der Großartigkeit Ihr allzeit treues Hundeli Robert Walser« (Brief 637).
An eine junge Verehrerin seiner Werke:
»[…] grüße Sie, mit der Bitte, dieses Schreiben mit dem Wohlwollen und Schmollen eines Mädchens von Welt aufnehmen zu wollen, mich tadellos vor Ihnen verbeugend, mit einer Hochachtung, die sich bis in den Himmel hinauf erstreckt, und dazu noch herzlich und schweizerisch, Ihr Robert Walser.« (Brief 663)
Abbildung:
Robert Walser an Fanny Walser, 11.4.1904 (Brief 60)
Robert Walser-Zentrum: RW MSB1-FAWA-5