Wenn man Ende März, Anfang April nach Nowosibirsk kommt, liegt die Stadt unter einer Staubschicht, sagt mein Dolmetscher. Immer wieder kneift er die Augen zu, während er nach Worten sucht. Um uns herum schneit es.
Der Schnee taut innerhalb von zehn oder fünfzehn Tagen weg, sagt er, Zeit der Pfützen, des Schneematsches, der Rinnsale, neue Wege tun sich auf, wo jetzt noch meterhoch Schnee aufgetürmt ist. Und aller Staub, den der Schnee aus der Luft gefangen und zu Boden gedrückt hat, wird dann in diesen zehn, fünfzehn Tagen freigesetzt, sagt er. Das Wasser fließt ab, verdunstet an den sonnigen Tagen rasch in der trockenen Luft, zurück bleiben Dreck, zerriebene Reste von Streusalz, verlorene Mobiltelefone und Schlüsselbunde. Wir gehen die Ulitsa Lenina hoch, vom Hotel auf das Lenindenkmal zu. Er erzählt, dass er Germanistik studiert hat und jetzt gelegentlich fürs Goethe Institut arbeitet, aber auch bei Flusskreuzfahrten für Deutsche und Schweizer Reisegruppen als Borddolmetscher anheuert. Auf den Gehwegen zentimeterdick der zu Eis zusammengestampfte Schnee, über den man sich halb schreitend, halb schlitternd fortbewegt. Wir laufen an zweistöckigen Holzhäusern mit weißen, aufwändig geschnitzten Zierborten vorbei, in den Hinterhöfen Schuppen und Verschläge, lauter Bert-Neumann-Bühnenbilder, zwischendrin Gründerzeitbauten und Leuchtreklamen, kleine Bars und Restaurants, die oft gleichzeitig russische Suppen und Sushi anbieten, fünfzehn- oder zwanzigstöckige verglaste Hochhäuser, ein Chicago des Ostens.
Die Stadt erschien ihm, sagt der junge russische Regisseur, als er letztes Jahr im April zum ersten Mal nach Novosibirsk kam, wie ein einziges Bühnenbild für Heiner Müllers Zement, begraben unter einer Schicht von Grau. Es war geplant, dass das Stück Ende März seine russischsprachige Uraufführung in Nowosibirsk feiert, rund 30 Jahre nach der Gründung der Russischen Föderation soll hier also ein Text auf die Bühne kommen, den Müller knapp 30 Jahre nach dem Beginn der DDR geschrieben hat. Müller benutzt die Frühphase der Sowjetunion als Blaupause, um über Korruption, eine starrsinnige Führungselite und das Aufeinanderprallen von kollektiven Idealen mit individuellen Sehnsüchten, Wünschen und Alltagssorgen zu erzählen. Vielleicht sind wir jetzt in Russland wieder an einem ähnlichen Punkt, nur dass heute gerade unter jungen Leuten kein Ideal, keine übergeordnete Idee erkennbar sei, sagt der Regisseur. 1993 habe es in Nowosibirsk eine erfolgreiche Inszenierung von Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten gegeben, erzählt der Regisseur, Müller selbst sei zu dieser russischsprachigen Erstaufführung damals angereist, sie habe ihm gefallen. Und noch heute treffe man gelegentlich auf Großmütter, die Müller damals getroffen hätten und sich an ihn erinnerten, so der Regisseur. Ich erzähle ihm, dass ich 1997 am Schauspielhaus Hamburg in dem Gastspiel von Müllers letzter eigener Inszenierung, Brechts Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui gesehen habe, und dass das für mich ebenfalls ein prägendes Theatererlebnis war, ich also auch eine dieser Großmütter sei.
Am Abend des letzten Workshoptages sitze ich mit den Worshopteilnehmer*innen in einer dieser russisch-japanischen Bars an der Ulitsa Lenina, wir sagen wenig, die Teilnehmer*innen bestellen Sto Gramm Wodka und trinken diese für mich beachtliche Menge Schnaps vollkommen ungerührt aus, um dann noch mehr Wodka zu bestellen. Dabei werden wir immer ruhiger, wie benommen, eine einverständige Betäubung, das mithilfe des Dolmetschers in Gang gehaltene Gespräch wie unter einer Schicht Schnee.