Mit dem WM-Extrablatt begleiten wir die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien vom 12. Juni – 13. Juli 2014. Unser Team: Imran Ayata, Friedrich von Borries, Paul Brodowsky, Petra Hardt, Heinz Helle, Verena Güntner, Thomas Klupp, Katja Kullmann, Matthias Nawrat, Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Thomas Pletzinger, Doron Rabinovici, Lutz Seiler, Stephan Thome, Stefanie de Velasco.
Miroslav Klose entstammt einer anderen Zeit. Mit rund zweihundert Jahren ist er der mit Abstand älteste Spieler dieser WM. Klose ist Melancholiker. Wir wissen: Er angelt gerne, steht allein am Meer, im Zwiegespräch mit der Natur. Frisur, Auftreten und Ausdruck erinnern an Urzeiten des deutschen Fußballs: ein Hauch von Vokuhila, Rudi Völler-Gene, ohne dessen Aggressivität. Traurige Augen, Krähenfüße, Adlernase. Statt als Vierjähriger ins Fußballinternat zu gehen, hat Klose eine Hauptschule besucht, eine Zimmermannslehre abgeschlossen – und auch heute sieht er noch ein wenig nach kickendem Zimmermann aus. Keinen Starfriseur, keine Rhetorikkurse, Klose ist Old School – und der letzte verbliebene Angreifer in Löws WM-Kader. Mit ihm sind sie alle noch mal auf dem Platz: der erfolglose Jancker und der noch im Torjubel traurige Neuville, der dunkelhell verspielte Schneider und der einsame Raumdeuter Friedrich (Caspar David).
In einem Team, das zur Hälfte aus gefühlt Zwanzigjährigen zu bestehen scheint, ragt Klose monolithisch hervor: Anders als der ewige Abiturient Draxler oder der stets telegen gepuderte Götze ist er keine Kopie eines Hologramms eines Playstation-Avatars. Klose ist in seiner melancholischen Präsenz immer sehr real auf dem Platz, selbst dann, wenn er nur über den Rasen zu schleichen scheint. »Sucht seine Form« – diese Günther-Netzer-Gedächtnis-Floskel bekommt erst bei Klose ihre sprichwörtliche Qualität: In schwachen Spielen ist er tatsächlich ein Gespenst, das mit hängendem Kopf unter der Grasnarbe nach seinem wahren Ich fahndet. Klose ist ein Untoter, aber einer, der um seinen Status weiß: »Noch tragen mich meine Beine, deswegen schleppe ich meinen Kadaver noch ein bisschen durch.« Berüchtigt sind die Eisbäder, die er nach Spielen nimmt, um seine Muskulatur frisch zu halten. »Klose hat offenbar einen sehr langsam alternden Körper« (EM 2012) – auch Béla Réthys Telemumifizierung tut ein Übriges, um den Stürmer in Form zu halten. Und trotzdem ist er auch als Fußballgeist noch unendlich viel greifbarer als die ewig gleich verspielten, immer gut frisierten Youngstars des Kaders. Klose ist die Sorte Fußballer, nach der die Playstation-Fußballfiguren modelliert sind – und nicht umgekehrt.
Auch wenn Klose nicht mehr die Spritzigkeit früherer Jahre hat, ist er ein dynamischer, geschmeidiger Stürmer, ein echter Neuner. Seine kurzen Antritte haben noch immer Biss, für die entscheidenden zwei Strafraummeter ist er pfeilschnell – ein echter Aphoristiker eben. Mit seiner Beweglichkeit reißt er Räume auf, zieht Verteidiger auf sich, ebnet den jungen Mitspielern den Weg zum Tor. Und anders als die meisten Stürmer ist er uneigennützig, arbeitet defensiv mit, spielt auch in aussichtsreicher Position noch ab, wenn ein Mitspieler besser postiert ist. Das Rauschen der Bälle ins Netz ist ihm wichtiger als die persönliche Bestätigung. Was ihn nicht daran hindert, der erfolgreichste deutsche Torschütze aller Zeiten zu sein.
Und Klose wird noch mindestens weitere zweihundert Jahre für Deutschland spielen, zumal er sich mit zwei Toren im kollektiven Fußballbewusstsein unsterblich gemacht hat: erstens mit dem 1:1-Ausgleich gegen Argentinien im Viertelfinale der WM 2006. Flanke Ballack auf Borowski, Kopfball Borowski auf Klose, und Klose ebenfalls mit dem Kopf – er alliteriert den Ball also gewissermaßen – ins lange Eck. Deutschland gewinnt später im Elfmeterschießen 5:3. Das zweite Tor: die 1:0-Führung gegen England, Achtelfinale der WM 2010. Weiter Abschlag von Neuer in den englischen Strafraum, Klose ist zur Stelle, in einem herzzerreißenden Laufduell lässt er John Terry stehen, wird von Matthew Upson noch gefoult und schießt den Ball im Fallen – schönste, paradoxe Trope – an dem verblüfften Torwart vorbei ins Netz. Späterer Endstand: 4:1. Womöglich kommen bei dieser WM noch ein oder zwei epische Tore von Klose hinzu: Dann wäre er bis auf Weiteres der erfolgreichste Weltmeisterschaftstorschütze aller Zeiten.
Auswechslung Klose: Wie ein Panther trabt er zur Coachingzone, sein Blick müde geworden. Doch noch, dürfen wir hoffen, spielt Klose und beschert uns die geschmeidigsten, traurigsten, schönsten Tore.