Georgiens Hauptstadt Tiflis ist ein stadtgewordenes Palimpsest. Nordische Lärchen wachsen neben Pinien und vereinzelten Palmgewächsen. In den Straßen wechseln sich Wohnhäuser der sozialistischen Architekturmoderne mit halb verfallenen Gründerzeitvillen ab; an den Prachtboulevards stehen historische Repräsentationsbauten und vereinzelt hochglänzende Shoppingmalls.
Auf platanenbestandenen Alleen finden sich Edeleisdielen und Biolebensmittelgeschäfte wie in Marseille, Tel Aviv oder Lissabon – und wenige Meter weiter bieten einem Frauen selbstgestrickte Wollsocken oder Gemüse aus dem eigenen Garten für sehr wenig Geld feil. Ganze zentrumsnah gelegene Stadtviertel wirken mit ihren ein- bis zweistöckigen Häusern aus unverputzten Ziegelwänden wie große dörfliche Agglomerationen. Hunde bellen, Katzen streunen durch die kopfsteingepflasterten Berggassen, häufig enden diese Wege plötzlich in verwinkelten Treppen. In Gärten wachsen Khaki-, Feigen- und Quittenbäume, Wein rankt auf Gittern über die Gassen hinweg. Im historischen Stadtkern gibt es eine Reihe von heißen, schwefelhaltigen Quellen, um die herum kuppelförmige Kavernen gebaut sind, die an die prächtigen Hammams Istanbuls erinnern. In Sichtweite dieser Bäder stehen auf engem Raum beieinander eine Moschee aus dem 19. Jahrhundert, zwei Synagogen, unzählige jahrhundertealte Kirchen. Und immer wieder läuft man kleineren und größeren Theatern über den Weg. Die Bedeutung, die Literatur und Theater für das Selbstverständnis, das Selbstgespräch dieses Landes haben, ist an vielen Ecken greifbar. Tiflis (oder T’blissi, wie die Georgier ihre Hauptstadt nennen,) ist ein Knotenpunkt von Asien und Europa. Und die Diskurse von Traditionsverhaftung und Post- oder Meta-Moderne, von Orientierung nach Westen und Anlehnung an Russland, verknäueln sich auf zahlreichen Ebenen.
In Gesprächen mit Schriftstellerkolleginnen ist immer wieder von der russischen Besatzung die Rede, von der ich vor meiner Reise nach Georgien praktisch nichts weiß. Die Mechanismen sind ähnlich wie in der Ukraine: Die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Regionen werden von Russland dafür genutzt, Teile des Landesterritoriums zu besetzen, pseudodemokratische Wahlen in diesen Regionen abzuhalten und die Westbindung des Landes, insbesondere die engere Verknüpfung mit der NATO und der EU zu verhindern. Staaten, die in territorialen Konflikten mit anderen Staaten stehen, sind von der Aufnahme in diese Organisationen ausgeschlossen – es ergibt sich also eine Art geostrategisches Dauerpatt, ein Teufelskreis. Zudem provoziert Russland immer wieder, indem es die selbst gesetzten neuen Grenzlinien sukzessive um einige zig Meter weiter in georgisches Hoheitsgebiet hinein verschiebt, Bauern in der Grenzregion schikaniert, einzelne georgische Staatsbürger festnimmt und ohne rechtliche Grundlage für unbestimmte Zeit festhält. Alles Methoden, die aus dem Ukrainekonflikt bekannt sind, die hier aber schon seit 1993 Anwendung finden. Russische Truppen stehen gerade einmal 40 Kilometer von Tiflis entfernt. Die Georgier sprechen von der »Schleichenden Okkupation«.
Der Einfluss Russlands taucht wie in einem Brennglas an meinem letzten Abend der Reise in einer Bar namens »Politica« auf: Zwei Franzosen, vier Georgierinnen, ich sitze neben einer schlagfertigen Bühnenbildnerin und Jazzsängerin, die mir meine Bekannte scherzhaft als die Diva T’blissis vorstellt. Irgendwie kommen wir nach mehreren Whisky Sours auf den Nahostkonflikt zu sprechen und die Bühnenbildnerin neben mir beschreibt Israel plötzlich und ziemlich einseitig als aggressiven Staat ohne Existenzberechtigung – was palästinensischen Kindern im Gazastreifen von den Israelis angetan werde, sei einfach nur inhuman, alles andere in Bezug auf den Konflikt sei sekundär. Verschiedene andere Leute, mich eingeschlossen, widersprechen vehement. Eine Weile später kommt dann die Sprache in unserer eher chaotisch-assoziativen Diskussion auf den Fluchtsommer 2015 und die Kölner Sylvesternacht, was die Bühnenbildnerin als Beispiel für das Scheitern der europäischen Migrationspolitik anführt und für die Bedrohung, die von Migranten ausgehe, Europa sei nicht mehr weit von einem Kollaps entfernt. Auch hier verläuft die Diskussion ergebnislos, wir trinken mehr Whisky, eine weitere Freundin meiner Bekannten, zugleich die junge Betreiberin der neueröffneten Bar, kommt vorbei, Gelächter, als ich von meinem halbgescheiterten Versuch erzähle, die Therme rund um die heißen Schwefelquellen zu besuchen, ohne mich beim Einlass über den Tisch ziehen zu lassen. Meine Bekannte organisiert mir eine Weile später ein unglaublich günstiges Taxi zurück ins Hotel und sagt etwas entschuldigend, ihre Freundin sei manchmal merkwürdig, sie sei halb Russin und habe deshalb bei bestimmten Themen andere Ansichten. Und mir wird in dem Moment klar, dass diese jazzsingende Bühnenbildnerin ganz einfach Russia-Today-Narrative reproduziert. Ich fahre mit dem Taxi durch die Nacht zurück über ruckelnde Straßen, Betonbrücken, an angestrahlten Gebäuden vorbei, Neonschriftzüge und übergroße LED-Werbescreens, auf den Gehwegen hinter den Scheiben mischen sich geschmeidige Diebe, blind Liebende, einarmige Spekulanten und rückgratsteife Polizisten, feiernde und hungerstreikende Menschen, Angst und Verheißungen von Glück, wir biegen in engere Gassen ein, das Navi des Fahrers versagt, aber zum Glück sind wir dem Hotel schon so nahe gekommen, dass ich den Rest des Weges zu Fuß laufen kann.