Paul Brodowsky schreibt Prosa und Theaterstücke – und ist süchtig nach beidem.
Ein Raum mit tausendundsieben Menschen. Sieben stehen auf einer Bühne, sprechen, spielen, performen, tausend schauen zu, lachen, atmen, schwitzen, schweigen oder jubeln. – Tausendundsieben Räume mit je einem Menschen darin, jeder von ihnen ist vertieft in ein Buch, blättert, taucht ein, vernachlässigt, blättert zurück, lässt die Bilder entstehen, hört Musik dabei oder trinkt ein Bier. Das wäre einer der signifikanten Unterschiede zwischen Theater und Buch: Text und Raum gehen in den beiden Kunstformen sehr unterschiedliche Verbindungen ein.
Wir treffen uns Abend für Abend zu Hunderten um 20 Uhr in den bezeichneten Gebäuden. Im Saal bitte nichts trinken. Und bitte schweigen: Uns Zuschauenden steht ein eingeschränktes Repertoire an Möglichkeiten zu, sich zu dem Gezeigten zu verhalten – und dennoch sind diese Rückkopplungen zwischen Performern und Zuschauern wichtig für das, was da verhandelt wird. Aufführungen sind Kollektivereignisse.
Bücher suchen im Gegensatz zu Stücken einzelne, individuelle Leser; und sie schaffen beim Vorgang des Lesens innere Räume – die in fast beliebigen Außenräumen vor der inneren Leinwand des Lesers aufgerufen werden können, Bücher kann man zu Hause lesen oder mitnehmen an den Strand, ins Café, in die U-Bahn. Anders gesagt: Ein Roman bietet die Möglichkeit, in eine intensive Zweierbeziehung einzutreten; Theatertexte werden zu einem grundlegenden Element eines kollektiven, vor allem aber: diskursiven Rituals. Beides ist für mich als Autor reizvoll, beides macht geradezu süchtig: zu wissen, es gibt Leser da draußen, die mein Buch lesen, mitnehmen, weiterblättern. Und in einem vielköpfigen Publikum zu sitzen, während auf der Bühne der eigene, von Schauspielern sich zu eigen gemachte Text gesprochen wird: Deine Sache wird verhandelt, und nicht nur du, sondern wir alle schauen zu.
Welche politischen Räume machen die beiden Genres auf? Romane begleiten mich länger, allein schon weil ich mehr Zeit brauche, zweihundert, erst recht tausend Seiten zu lesen, als in ein Stück zu gehen. Dafür verbinden Romane sich ähnlich wie Songs in meiner Erinnerung mit Lebensabschnitten. Diesen Roman habe ich auf der Zugfahrt von nach gelesen, jenen im Urlaub in. Figuren guter Romane bekommen in meinem Gedankenhaushalt einen ähnlichen Status wie Freunde oder Mitglieder einer virtuellen Familie: Ich kann mit ihnen denken, mit ihnen Welt erfassen und perspektivieren – selbst dann noch, wenn mir die Figuren nicht sympathisch sind. Josef Bloch würde sich fragen. Don Gately würde jetzt erst mal, während Hal Incandenza die Situation so. Und Wim Endersson ist eigentlich weitgehend.
Politischen Romanen sollten dabei Thesen zugrunde liegen, Beobachtungen zum problematischen Zustand der Gegenwart, die diese uns jedoch nicht platt zurufen, sondern fein schraffiert und stark verästelt nach und nach entfalten. Stücke dagegen nisten sich bei mir weniger über Figuren oder Plotverläufe in mein Denken ein, sie geben im Idealfall direktere Diskursimpulse. Auch durch sie lässt sich Welt perspektivieren, auch in ihnen zeigt sich, was es bedeutet, in unserer Gegenwart zu leben, welche Widersprüche und Abgründe wir in unser alltägliches Denken inkorporiert haben. Die Figuren eines Stückes (sofern es mit Figuren operiert) sind dabei aber nur Teil eines Erzählens, das mich auf zahlreichen Ebenen anspricht, im besten Fall: überwältigt. Die verschiedenen Elemente der Inszenierung (also Bühne, Kostüme, Spielweise der Darsteller etc.) nehmen einen mindestens ebenso wichtigen Stellenwert ein. Politische Stücke operieren auf der Ebene der Narration tendenziell vereinfachend, mit parabelhaften Verdichtungen, die sich zugleich in den plurimedialen Überlagerungen einer Inszenierung und in dem interaktiven Raum, den Theater immer bedeutet, verschachteln. Sie erzählen durchaus auch Geschichten; was von guten Inszenierungen aber bei mir haftenbleibt, sind eher Bilder, Augenblicke, Momente, in denen die Aporien unserer Gegenwart eingefangen sind. Wir kommen aus guten Inszenierungen und denken: Ja, so ist Welt; ja, das ist problematisch; ja, ich muss mein Denken, mein Leben ändern. Diese Momente erleben wir aber nicht allein, sondern im Halbdunkel eines Zuschauerraumes als einen Kollektivschauer. Eine Augenblickskunst, die nicht an der Bühnenkante haltmacht, sondern Performer und Zuschauer, Autor und Publikum in einen interaktiven Raum setzt. Nicht zuletzt deshalb scheint mir die deutschsprachige Gegenwartsdramatik in der Summe stärker politisiert, formbewusster, variantenreicher als etwa die Gegenwartsprosa. Wenngleich einzelne herausragende Romane der letzten Jahre einem politischen Anspruch durchaus gerecht werden – und dann die Möglichkeit haben, ein viel umfassenderes Publikum zu erreichen, da Bücher, anders als Inszenierungen, nicht auf raumzeitliche Verabredungen angewiesen sind.
Auch deshalb steht für mich fest, dass ich weiter in beiden Genres tätig bleiben möchte, weiter für den Raum mit tausend Zuschauern und für die tausendundsieben Einzelräume schreiben möchte, selbst wenn das Umschalten zwischen den Genres eine erhebliche Herausforderung bleibt. Nach Die blinde Fotografin (2007) und einem abgebrochenen, ersten Versuch, eine längere Erzählung zu schreiben, habe ich fast nur noch Theatertexte verfasst. Wenn ich gelegentlich für Anthologien vereinzelte Erzählungen geschrieben habe, konnte ich jedes Mal spüren, dass die alten Fertigkeiten noch vorhanden waren. Wie selten genutztes Werkzeug, das man vom Speicher holt, das leicht Rost angesetzt hat, aber mit beherztem Zugriff durchaus wieder einsetzbar ist, konnte ich mich nach zähem Beginnen jeweils wieder in ein Prosaerzählen hineinschreiben. Trotzdem habe ich mich seit 2007 verändert; ich bin mehrfach umgezogen, Vater geworden, interessiere mich für politischere Stoffe – weshalb ich auch mein Prosaerzählen ein Stück weit neu erfinden musste und muss. Und alles handwerkliche Vermögen, sei es routiniert oder aufgefrischt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass man für jeden Text einen klaren Erzählanlass braucht. Darin gleichen sich das Schreiben von Stücken und das von Erzählungen: Hauptarbeit bleibt das Aufsuchen und Herausarbeiten der eigenen Schmerzpunkte.