Protokoll eines Selbstversuchs in digitalem Lesen
Tag 0. Ich bin, was das Lesen von eBooks angeht, komplett unbeleckt. Und eher skeptisch. Bislang lese ich buchlange Texte ausschließlich auf Papier und kann mir nicht vorstellen, dass sich das in näherer Zukunft ändert. Wiewohl ich täglich viel Zeit im Netz verbringe und für mein Empfinden eher zu viel am Bildschirm lese – nur eben keine Bücher. Und das, obwohl mehr und mehr interessante Texte ausschließlich als eBooks publiziert werden, etwa bei mikrotext, im Rahmen der Hanser-Box oder bei Fiktion – um ein paar prominentere Beispiele aus meiner filter bubble zu nennen.
Tag 1. Ich habe mir einen tolino ausgeliehen und bin erstaunt, wie klein und leicht das Gerät ist. Der Screen ist kaum zwei Handteller groß. In diesem Unterformat beginne ich mit der Lektüre von ALFF, dem Debütroman von Jakob Nolte. Vor knapp zwei Jahren las ich den Text auf Bitten des Autors schon einmal, als Manuskript, auf Zugfahrten, nachts nach einem Workshop, übermüdet, unter Zeitdruck. Ich hielt einen überfordernden, unfertigen Text in den Händen, zugleich den wohl eigenwilligsten deutschsprachigen Roman, der mir in seit langem begegnet war: eine Highschool-Mordserie von herber Drastik, ansatzlos hineingeschnittene Traumsequenzen, ein zerfaserndes Figurenpanorama, seltsame Retro-Science-Fiction-Elemente – nur selten stieß ich auf ausgearbeitete Szenen. Alles durchschossen von bizarren, mitunter mutwillig windschiefen Sprachspielen und Bildern. Trotzdem hatte ich beim Lesen ein fertiges Buchs vor Augen. Der Autor entschied sich, den Roman bei Fiktion.cc zu publizieren, einer nichtkommerziellen eBook-Plattform. Ich hatte ohnehin vor, den Text ein zweites Mal zu lesen – jetzt also digital.
Ich schalte den tolino ein. Ich kann zwischen sieben Schriftgrößen wählen, ich nehme die kleinste. Ich würde mir eine achte, kleinere wünschen, so ist für meinen Geschmack zu wenig Text auf der Seite, und ich komme mir irgendwie für dumm verkauft vor: Lesen fast wie im Großdruck, endlose Bild-Zeitung-Überschriften. Oder klammere ich mich zu sehr ans Buch-Paradigma? In dieser Form hat die einzelne Seite aber kein Gewicht. Lesen wie Chips essen, zack crunch, so beiläufig und schnell wie das Wischen über den Screen zum Umblättern. Das passt nicht zu diesem Autor, das passt nicht zu diesem Text. Vor allem weil ich bei einem Text von dieser Komplexität springen möchte, zurückgehen, mich rückvergewissern: Von wem wird gerade erzählt, wie steht diese Szene zur perpendikular angelöteten, vorherigen Szene etc.
Und der Umbruch auf dem Screen ist ein Witz:
»[…] hängt der leblose Körper eines Jungen. Peni-/ bel […]« – Das ist zwar eine korrekte Trennung, aber reichlich unschön, fast unfreiwillig komisch.
Noch offensichtlicher wird es hier:
»Unmittelbar wird ihr Weltruhm zuteil und es regnet Banjosa-/ iten […]«
»Sie will ihm seinen Milchs-/ hake spendieren […]«
Die Silbentrennung nimmt ein offensichtlich zweitklassiger Algorithmus vor.
Tag 2. Ich lese ALFF auf meinem MacBook weiter, auf der Webseite von Fiktion, mit dem dort angebotenen, von dem Projekt entwickelten Reader: eine weiße Seite mit einem annähernd quadratischen Fenster, in dem der Text langsam von unten nach oben läuft. In einer angenehmen Serifenschrift, mit schönem Zeilenfall, Flattersatz, auf Silbentrennungen wird konsequent verzichtet. Der Text taucht wie aus einem Nebel von unten auf, wandert langsam, aber stetig – »wie beim Teleprompter« (Selbstbeschreibung auf Fiktion.cc) – nach oben weiter und verschwindet wieder in Nebelweiß. Die Geschwindigkeit lässt sich über eine diskret-funktionale Navigationsleiste am Rand regulieren, man kann zweifingerscrollen und den Text auf simple Weise anhalten.
Trotzdem habe ich damit meine Schwierigkeiten. Ich fühle mich immer wieder wie auf dem Leselaufband, weiter, weiter, schnell weiter, ich bin mehr mit Schnelllesen als mit dem Inhalt des Textes beschäftigt. Also langsamer einstellen, per Klick auf den Minusbutton links. Derweil ist der Text aber weitergelaufen, die Zeile schon halb im oberen Wolkennebel verschwunden, daher ganz anhalten, Vorsprung erarbeiten, weiterlaufen lassen. Jetzt läuft der Text zu langsam, also wieder etwas schneller. Die Regulierung geschieht »nahezu stufenlos« (Homepage Fiktion), man muss also mehrmals klicken, bis man einen Unterschied merkt, was zusätzlich Zeit und Konzentration von der Lektüre abzieht, und trotzdem schießt man ständig übers Ziel hinaus. So reguliere ich eine Weile rauf und runter. Und stelle fest: Eine optimale Lesegeschwindigkeit gibt es für mich nicht. Zumindest nicht bei Jakob Noltes anspruchsvoller Prosa. Ständig muss ich am Tempomat fummeln, komplexere Sätze will ich zwei-, zweieinhalbmal lesen, dann läuft mir der Text wieder zu langsam, zumal bei raschen Dialogen, die viele Absätze und Leerzeilen aufweisen. Ungeduld, leichte Irritationen. Vielleicht wäre das Problem mit einem echten Tablet kleiner, die Touchscreen-Bedienung intuitiver, aber so bin ich eher frustriert.
Tag 3. Vielleicht habe ich mich inzwischen ein wenig an den Reader gewöhnt oder an Jakob Noltes grandios übersteuerte Sprache, vielleicht liegt es aber auch daran, dass der Roman mit der stärksten, wohl auch längsten, am besten ausgearbeiteten Szene schließt. Jedenfalls werde ich jetzt tatsächlich durch den Text gezogen wie durch hellen Honig, immer weiter, immer tiefer hinein. Ein Flow-Erlebnis. Wenn ich den Text kurz anhalte, um einen Satz noch einmal zu lesen, scheint die Schrift vor meinen Augen weiter aufzusteigen, ich muss mich rückversichern, dass da nichts nach oben weggezogen wird, fast bin ich süchtig geworden nach selbstständig weiterlaufendem Text. Und alle Sprachbilder entstehen auf einer inneren Leinwand, die ganze Szene, der imaginäre Film. Die Lesemaschine tritt in den Hintergrund. Dennoch bezweifle ich, dass sich ein solcher Lese-Flow auch bei den mutwillig verknäulten, rapide zwischen Zeiten, Orten, Figuren springenden Szenen des Anfangs eingestellt hätte.
Fazit: Solange kein überzeugender Reader auf dem Markt ist, der mithilfe einer integrierten Kamera meine Augen scannt und die Laufgeschwindigkeit simultan meinen sich ständig verändernden Lesewünschen anpasst, bleibe ich skeptisch, was digitales Lesen von anspruchsvollen Texten angeht. Außerdem bin ich bei Büchern hemmungslos objektophil: Ich will ein Buch anfassen können, ins Regal stellen, jederzeit herausnehmen, ich will die gelesenen Bücher konkret um mich wissen. Ich will an der leichten Graufärbung des Buchschnitts sehen können, wie viel ich von dem Buch gelesen habe, ich will Links- und Rechtsseiten, um erinnerte Passagen leichter wiederfinden zu können, ich will meine eigenen Unterstreichungen sehen.
Wenn ich mich viele Stunden auf ein Werk einlassen soll, möchte ich das so exklusiv und intensiv wie möglich tun. Ich falte beim Lesen keine Wäsche, rauche keine Zigarette, steuere kein Auto. Was bei Musik für mich funktioniert, das immateriell-flüchtige, beiläufige, mitunter obsessiv wiederholte und gerne auch digitale Konsumieren, geht für mich bei Literatur – zumindest bis heute – nicht auf. Ich warte also weiter darauf, dass ALFF in Buchform herausgegeben wird, und würde den Roman dann auch ein drittes Mal lesen, der großartige Text gibt das allemal her. Fiktion auch – schönerweise belässt das Projekt die Rechte zum Abdruck bei den Autoren.