Ich bin so geboren, dass ich nicht ohne weiteres Tränen vergießen kann. Nicht um eines bedeutungslosen Männlichkeitsprinzips willen – meine Tränendrüse funktioniert einfach nicht gut. Daher weine ich selten und bewundere jene, denen das in traurigen Momenten leichter fällt. In der Nacht aber, in der mich die Nachricht vom tragischen Tod des Friedensnobelpreisträgers, Demokratieaktivisten und Schriftstellers Liu Xiaobo erreicht, kann ich nicht anders: Die Tränen laufen einfach, auf der Straße, im Bus, im Laden, eine Stunde lang.
Schuld an Lius unheilbarer Krankheit ist ganz offensichtlich seine fast 10-jährige Haft. Sein letzter Wunsch war es, zur Behandlung nach Deutschland gebracht zu werden. Es heißt, damit habe er versucht, seiner geliebten Frau Liu Xia, die der Regierung keinerlei »Schwierigkeiten« gemacht hat und dennoch unter Hausarrest gestellt und jahrelang fast völlig isoliert wurde, zur Freiheit zu verhelfen. Wie nicht anders zu erwarten war, verweigerte ihm die chinesische Regierung diese Bitte. Am Ende musste Liu also unter autoritärer Herrschaft sterben und ist somit der erste in Haft umgekommene Nobelpreisträger seit Carl von Ossietzky – der deutsche Pazifist erhielt den Preis 1935 und starb nach Jahren im Konzentrationslager. An Lius »Bestattung« durfte keiner seiner Freunde teilnehmen, die chinesische Regierung stellte dafür irgendwelche Statisten bereit. Liu Xia wurde anschließend gedrängt, seine Asche ins Meer zu streuen. Während ich diesen Beitrag schreibe, kann keiner ihrer Freunde Kontakt zu ihr aufnehmen.
Die chinesische Regierung attackiert ununterbrochen die Grundvorstellungen von Menschlichkeit und Zivilisation. Und schlimmer noch, sie setzt dazu an, die Welt durch ihre Wirtschaftsmacht zu erobern. Nach Lius Tod wagte die norwegische Regierung nicht ein Wort zu sagen, um die Lachsexporte nach China nicht zu gefährden.
Im Widerstand gegen die chinesische Regierung steht Hongkong unfreiwillig an vorderster Front. Für mich und andere Hongkonger waren die 24 Stunden nach Lius Tod besonders brutal: Ein Gericht setzte vier demokratisch gesinnte Mitglieder des Legislativrats ab, angeblich weil sie keinen Amtseid abgelegt hätten. In Wahrheit hatte Chinas Nationaler Volkskongress ein Gesetz verabschiedet, das den Amtseid im Nachhinein für ungesetzlich erklärte: »Das Verhalten von heute verstößt gegen die Gesetze von morgen.«1 Es ist empörend, dass demokratisch gewählte Ratsmitglieder einfach so abgesetzt werden. Vor allem hat damit das Lager der Demokraten seine Vetomacht über die wesentliche Gesetzgebung verloren. Ich werde wohl nie vergessen, wie Hongkong in diesen 24 Stunden die Luft abgedreht wurde.
Viele Menschen aber scheint diese Situation überhaupt nicht zu tangieren. Sie genießen weiterhin ihren Freitagabend mit gutem Essen und Wein, zermartern sich das Hirn, welche Sneaker sie kaufen sollen, und planen fleißig ihre Wochenendunternehmungen. Die Zersetzung einer Gesellschaft bedeutet ihnen nichts.
Wenn man mit großem Einsatz versucht, Widerstand zu leisten oder ein soziales Bewusstsein zu wecken, trifft man unweigerlich auf Menschen, denen das am Arsch vorbeigeht. Oder die einen, schlimmer noch, für aufwieglerisch halten. Man selbst wiederum fühlt sich weitgehend hilflos, denn der Kampf scheint völlig aussichtslos. Mit friedlichen Demonstrationen lässt sich offenbar kein Wandel mehr erzwingen. Eine Revolution ist auch nicht mehr möglich, denn die Machtdiskrepanz zwischen Regierung und Volk wächst seit hundert Jahren immer weiter. Früher konnte man zumindest noch mit der Mistgabel in der Hand Widerstand leisten – heute bringt das nichts mehr.
Das nenne ich »Schatten«. Schatten bedeutet für mich das Fehlen von Hoffnung und die wachsende Angst und Enttäuschung. Ende 2015 wurden fünf Buchhändler von Causeway Bay Books verhaftet. Sie hatten politische Bücher verkauft, die in China verboten sind, worauf sie von der chinesischen Regierung gekidnappt wurden, und zwar in China, Thailand und Hongkong. Das ist zutiefst verstörend: Hongkong ist nicht mehr sicher.
Warum leisten die Einwohner Hongkongs der chinesischen Regierung dann überhaupt Widerstand?
Viele Menschen außerhalb der Region halten Hongkong einfach für eine chinesische Stadt. Seine Einwohner aber empfinden ganz anders und bezeichnen sich selbst als Hongkonger, nicht als Chinesen.
Hongkong hat seine ganz eigene, komplizierte Geschichte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war es britische Kronkolonie, am 30. Juni 1997 wurde es der Volksrepublik China übergeben. Für andere Länder bedeutet Dekolonialisierung, dass sie unabhängig werden – Hongkong hingegen hat das nie erlebt. An den Verhandlungen über seine Zukunft Anfang der 80er Jahre hat Hongkong selbst nicht teilgenommen, am Tisch saßen nur China und Großbritannien. Hongkong wurde also lediglich von einer Kolonialmacht an eine andere übergeben.
Angesichts dieser Lage sind Konflikte zwischen China und Hongkong unausweichlich. In der »Sino-British Joint Declaration« von 1984 wurde zwar vereinbart, dass Hongkong ein hohes Maß an Autonomie behalten sollte – nach Übergabe der Hoheitsgewalt stehen jedoch Demokratie, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit unter ständiger Bedrohung; die Autonomie wird ebenso verletzt wie das zugesicherte Prinzip »ein Land, zwei Systeme«. Die chinesische Regierung sieht in Hongkongs Freiheit eine Gefahr, da Widerstand dort zum Vorbild für andere chinesische Städte werden könnte. Zudem möchten einige höhere Regierungsbeamte und Magnaten möglichst viel an Hongkong verdienen, und eine straffe Kontrolle über die dortige Regierung trägt zu ihrer Gewinnmaximierung bei. Als Konsequenz entstand im September 2014 die »Regenschirm-Bewegung«: Hongkonger besetzten die Hauptstraßen im Stadtzentrum, um für Demokratie zu kämpfen. Sie wollten Hongkongs Autonomie, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie den Rechtsstaat gegen den Eingriff Chinas verteidigen. Aber ihre Hoffnung hat sich zerschlagen, denn nichts hat sich geändert. Die chinesische Regierung verhaftete alle Unterstützer der Regenschirm-Bewegung auf dem chinesischen Festland. Und da sie nun die Grenzen der Macht der Bürger erkannt hatte, zog sie die Zügel noch fester an.
Was bleibt uns zu tun? Nichts? Über Emigration in andere Länder nachdenken? Was einige Honkonger gerade ernsthaft tun.
Ich komme immer wieder darauf zurück, was Albert Camus in Der Mensch in der Revolte zum Gefühl der Verzweiflung schrieb. Er zeichnet ein Bild des alten Ägypten: Als der Herr den Sklaven schlägt, schreit dieser plötzlich, sodass der Herr aufhört. Der Sklave glaubt nicht etwa, der Situation entkommen zu können oder dass in seinem Herrn ein Gewissen erwacht. Aber im Moment seines Schreis erkennt er seine Würde: Er ist wieder ein Mensch.
Immer wieder werde ich gefragt, warum ich Theater mache und schreibe. Jedem Menschen ist sein Bewusstsein das Kostbarste, beinah gleichbedeutend mit dem Leben an sich. Theater und Schreiben können das Bewusstsein unmittelbar und direkt ansprechen, deshalb finde ich sie unentbehrlich.
Liu Xiaobos Asche ist jetzt im Meer. Liu wird so zum Meer und das Meer zu einem kraftvollen Symbol des Widerstands. Niemand kann das Meer besiegen, nicht mal der Vorsitzende Xi und seine Kommunistische Partei. Jeder Tropfen Meerwasser spricht zu unserem Bewusstsein.
Aus dem Englischen von John Birke