Vergangenen April brach im naturgeschützten Feuchtgebiet Nam Sang Wai in Hongkong rätselhafterweise Feuer aus – und das gleich vier Mal. Kaum zu glauben, wie leicht es in einem Feuchtgebiet brennen kann. Nam Sang Wai ist ein beliebtes Reservat und das zweitgrößte Röhricht Hongkongs, Zugvögel rasten hier regelmäßig. Aber leider tobt auch seit langem ein Streit, ob diese wunderschöne Naturlandschaft erschlossen werden soll, um darauf Hochhäuser zu errichten, Luxuswohnungen genauer gesagt.
Bei dem Feuer wurde niemand verletzt, aber es gab auch noch keine Festnahmen. Rätselhafte Brände sind nichts Ungewöhnliches: Wo private Bauunternehmer ein Geschäft wittern, vor allem wo ältere Bausubstanz besteht, da brennt es schnell mal. Bei einer Vernissage erklärte mir meine Freundin YY, wie leicht es sei, ein Feuchtgebiet in Brand zu setzen: Töte eine Katze, lass sie auf dem Boden liegen, wirf nach einer Woche ein Blatt Papier darauf, und bald schon brennt es. Die Chemie dahinter leuchtet mir nicht so ganz ein, aber sei’s drum: Jeder Eindringling im Feuchtgebiet müsste rasch entdeckt werden. Wo stecken die ganzen Polizisten? (Wenn demonstriert wird, sind sie allgegenwärtig. Und im Verhaften von Aktivisten sind sie auch sehr tüchtig.) Dann berichtete YY, Freunde von ihr wollten eine Gruppe gründen, die Nam Sang Wai bewacht und beschützt. Da wurde mir klar: Hier zerbröselt gerade das Vertrauen in den Staat, wir glauben nicht mehr an die Behörden. Die Zivilbevölkerung kann niemandem mehr trauen außer sich selbst.
In seinem Buch Simulacres et Simulation stellt Jean Baudrillard wegweisende Beobachtungen zur modernen Gesellschaft an. Laut Baudrillard hat unsere gegenwärtige Gesellschaft Wirklichkeit und Bedeutung durch Symbole und Zeichen ersetzt und alles menschliche Erleben ist nur eine Simulation der Wirklichkeit. Ich (miss)deute seine Ausführungen so: Da wir nicht mehr in der Wirklichkeit leben, wissen wir nicht mal, ob wir noch »echtes« Gemüse essen. Wir können nicht sehen, wie es angebaut und geerntet wird; somit könnte das Gemüse pestizidverseucht sein oder genmanipuliert. Auch wenn die Behörden das Gemüse kontrollieren sollen – ihre Verlässlichkeit bleibt doch eine Behauptung: Man muss ihr Glauben schenken oder sein Misstrauen beiseiteschieben. Gemüse ist nicht mehr einfach Gemüse, sondern »simuliertes Gemüse«. Das passt zu Jean Baudrillards Bemerkungen über die historische Art der Simulacren in der Postmoderne des Spätkapitalismus, wo das Simulacrum dem Original vorausgeht und die Unterscheidung zwischen Realität und Repräsentation sich auflöst. Es gibt nur die Simulation, und Originalität wird zu einem völlig bedeutungslosen Begriff.
Dennoch meine ich, Baudrillard hat eines übersehen: Auch im Zeitalter der Simulacren macht es keinen Spaß, körperliche Verletzungen und Schmerz zu erleiden. Man möchte gern in einer sicheren Gesellschaft leben, die Garantie eines funktionierenden Alltags wird somit existenziell: Nahrung, Wasser, Strom, Fortbewegung … beinahe alles. All diese Güter beruhen auf Vertrauen und Glauben an andere, an die Regierung. Auch Simulacren benötigen Vertrauen.
Der jüngste Aufreger in Hongkong ist der Pfusch an der U-Bahn-Strecke vom Distrikt Sha Tin ins Zentrum. Es hat sich gezeigt, dass beim Bau von Bahnsteigen Stahlstäbe gekürzt und nur scheinbar korrekt in Kupplungen geschraubt wurden. Das Risiko ist hoch, dass in 20 oder 30 Jahren Bauschäden auftreten. Die fehlerhafte Konstruktion könnte Risse und Wasserschäden verursachen, durch welche der Stahl rosten und schließlich der Bahnsteig einstürzen könnte.
Mit einem Wort von Konfuzius: »Der Ehrenmann betrügt auch nicht im Dunkeln.« Das heißt, man sollte jederzeit ehrlich sein, auch wenn es niemand merkt. Bürger oder Journalisten haben keine Chance, den Pfusch mit den Stahlstäben aufzudecken. Hätte nicht eine der beteiligten Firmen die Sache enthüllt, wäre es womöglich irgendwann zu Unfällen gekommen. Traurigerweise sind solche Skandale keine Seltenheit. In den letzten fünf Jahren kamen in Hongkong etliche Fälle von Sicherheitsmängeln ans Licht: In manchen Sozialbauten übersteigt der Bleigehalt im Trinkwasser die WHO-Grenzwerte um das Dreifache; die Wellenbrecher an einer der künstlichen Inseln der Hongkong-Zhuhai-Macau-Brücke bieten bei Flut keinen Schutz, weil sie unter Wasser liegen – die Brücke ist also stark einsturzgefährdet; die Entgleisung eines neuen Schnellzuges im Depot, nur Monate bevor das neue System den Betrieb aufnehmen soll … Diese Fälle zerstören das Vertrauen der Hongkonger in die Sicherheit unserer Stadt.
Solch eine Vertrauenskrise gab es in Hongkong seit fast vierzig Jahren nicht mehr. Der Legislativrat ist in der Hand pekingfreundlicher Abgeordneter, die verhindern, dass derartige Fälle untersucht werden. Schlimmer noch: In diesem Jahr wurden junge liberale Politiker zu Haftstrafen von 4 Monaten bis zu 6 Jahren verurteilt. Ganz offensichtlich verschärft die chinesische Regierung die Kontrolle über die Hongkonger und chinesische Zivilgesellschaft seit der »Thronbesteigung« des Vorsitzenden Xi Jinping. Das ist nicht mal mehr eine Metapher: Seit März 2018 ist seine Amtszeitbeschränkung aufgehoben, er kann für immer an der Macht bleiben. Ein chinesischer Bürger sagte mir, das sei der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Er hat nun den Glauben an die chinesische kommunistische Regierung verloren.
Der Verlust des Vertrauens in die Regierung könnte zu einem Verlust von Hoffnung führen. Aber wir missverstehen und unterschätzen Hoffnung und Verzweiflung, und wir sind stets zu überzeugt von unseren eigenen Prognosen. Auch wenn die Hoffnung dahin ist, kann sich doch plötzlich ein Ausweg auftun. Während ich dies schreibe, bin ich glücklich und erleichtert, Liu Xias Lächeln wieder zu sehen. Sie wurde freigelassen und ist jetzt in Berlin. Wir hatten uns große Sorgen um sie gemacht. Zwar ist mir klar, dass hinter den Kulissen irgendein Kuhhandel stattgefunden haben muss, und noch immer werden viele Dissidenten von der chinesischen Regierung gefoltert, aber wenigstens kann ich sie lächeln sehen. Wahrscheinlich ist es das, was wir tun können: trotz allem glücklich leben, länger leben, niemals aufhören, an die Hoffnung zu glauben. Das ist die beste Art des Widerstands.
Aus dem Englischen von John Birke, zuerst erschienen in: Suhrkamp Theater Magazin 2019