Der Dramatiker und Regisseur Pat To Yan aus Hongkong über Verlust und Rückgewinnung städtischer Freiheit.
Eine meine Inszenierungen wurde im November 2019 in Taiwan gezeigt. Als ich dort ankam, hatte ich ein ungewohntes Gefühl von Sicherheit. Ich konnte mich auf den Straßen und in den Einkaufszentren frei bewegen, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden. Ich musste keine Verfolgungen befürchten, musste weder vorbereitet sein, mich zu verteidigen noch irgendjemand anderen, der sich in Gefahr befand. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich seit geraumer Zeit das Gefühl verloren hatte, wie es ist, entspannt durch die Straßen zu laufen. Eigentlich sollte das Leben in einer Stadt so sein.
In Hongkong bin ich stets wachsam, seitdem der Polizeiterror letzten Sommer eskaliert ist. Ich achte auf meine Umgebung. Wenn jemand auf der Straße schreit, versichere ich mich, dass er nicht gerade verhaftet oder von Schlägern angegriffen wird, die im Dienste der Regierung stehen. Ich vermeide die U-Bahn, weil sie am 31. August zum Komplizen des Polizeiterrors in der Edward Station geworden ist. Ich lese weniger Bücher, weil ich ständig die Neuigkeiten im Internet verfolge und weiterverbreite. Nachts habe ich Albträume von Verfolgung und Verhaftung, wie viele Menschen in Hongkong.
Einmal habe ich geträumt, dass ich in die Chinese University of Hong Kong (die erste der Universitäten, die von der Polizei angegriffen wurden) ging, um zu pinkeln. Plötzlich befand sich der Campus im Belagerungszustand. Ich kam nicht mehr fort. Alle bereiteten sich in unterirdischen Tunnels auf die Verteidigung vor. Schließlich stürmte die Polizei den Campus und wir versuchten zu fliehen. Ich flüchtete in eine Wüste. Sie erwischten mich nicht. Ich rannte einen Abhang hinab. Ein Polizeihelikopter verfolgte mich. Es waren auch Taxen da und »parents‘ cars« (so nennen wir Leute, die Mitmenschen in ihren Autos zur Flucht aus Demonstrationen verhelfen). Ich konnte aber nicht weiter fliehen, da ich meinen Geldbeutel im Campus verloren hatte. Im nächsten Augenblick war ich bereits auf der Polizeiwache und sollte auf Kaution entlassen werden. Die Polizisten standen Spalier, um uns zu verabschieden. Sie sollten anscheinend für irgendetwas bestraft werden. Wir waren von Presseleuten umringt. Ich zeigte auf eine Polizistin und schrie: ›Wo warst Du, als die Frauen auf der Wache vergewaltigt wurden. Du bist auch eine Frau, wieso hast Du ihnen nicht geholfen? Was, wenn Dir das passiert wäre?‹
Die Feiertage verschaffen auch keine Atempause. Am Weihnachtsabend stürmte die Polizei mehrere Einkaufszentren und verhaftete Leute; im Stadtzentrum haben sie Tränengas verschossen, während die Menschen Essen gingen und Weihnachten feierten. Die Feierlichkeiten zu Neujahr wurden von der Polizei zwei Stunden nach Beginn plötzlich abgebrochen, eine Million Menschen sollten die Feier innerhalb einer Dreiviertelstunde verlassen. Danach haben sie willkürlich Bürger*innen im Einkaufs- und Vergnügungsviertel Causeway Bay festgenommen. Manche der Verhafteten waren wirklich nur zum Einkaufen und Abendessen dort.
Wenn Leute verhaftet werden, gibt es ein Ritual. Ein schreckliches Ritual, wie ein Journalist es nannte. Die Leute rufen ihre Namen, damit man sie nicht einfach verschwinden lassen kann. Sie rufen, dass sie sich niemals das Leben nehmen würden. Seit Beginn der Proteste vor einem Jahr gibt es Hunderte von unaufgeklärten Fällen vermisster Personen. Leichen, die im Meer gefunden wurden, oder von einem Hochhaus »gesprungen« sein sollen. Wir nehmen an, dass sie aus dem Fenster geworfen wurden. Die Polizei sieht keine Verdachtsmomente. Wie viele andere habe ich über soziale Netzwerke bekannt gegeben und meinen Freunden mitgeteilt, dass ich mir nicht das Leben nehmen werde. Man mag von Selbstmord halten, was man will – aber sogar das Recht, das eigene Leben zu beenden, hat man uns genommen.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert sollte man annehmen, dass wir all diese Scheußlichkeiten überwunden hätten: die Verletzung der Menschenrechte durch Diktaturen, die Unterdrückung der Freiheit, Rassismus und Völkermord – diese ganzen alten Geschichten. Wir haben das Internet und Smartphones. Die Biologie soll in dreißig Jahren ihren Höhepunkt erreicht haben. Aber offensichtlich war der Friede trügerisch. Manche (oder viele?) Menschen glauben immer noch an den autoritären Staat, sie glauben immer noch an ihre Überlegenheit und dass andere Ethnien verschwinden sollen, oder mindestens aus ihrem Blickfeld. Sie denken nur an ihren eigenen Wohlstand. Sie glauben, die Dinge, die in der Welt passieren, gingen sie nichts an. Solche Einstellungen findet man überall auf der Welt.
Eine der verstörendsten Tatsachen ist, dass die Polizei von Hongkong keinen äußeren Feind darstellt. Plötzlich wendete sie sich gegen die Menschen von Hongkong. Einerseits folgt sie den Befehlen der Regierung von Hongkong, der chinesischen Regierung. Andererseits greift sie die Bürger von Hongkong an, vergewaltigt und tötet sie ganz aus eigenen Stücken. Es ist eine Mischung aus systematischer und willkürlicher Gewalt. Dieses schreckliche Monster wurde mitten in der Stadt geboren. Ein Großstadtbewohner.
Vor einer Woche fand in Hongkong ein Seminar über »Freiheit und Angst« statt. Longtin, ein Systemkritiker und einer der Vortragenden, sagte, den Moment größter Freiheit erlebe man in der vordersten Reihe des Protests. Die meisten Ängste entsprängen unseren Vorstellungen, sagte er. Wenn man aber dort in der vordersten Reihe stehe, erscheine es einem ganz normal. Genauso empfinde ich es. Ich stelle mir immer folgende Szene vor: die Polizisten haben eine Verteidigungskette gebildet. Wir gehen einfach voran, als stünde uns nichts im Weg. Wir gehen einfach weiter, bis wir durch sie hindurch sind. Weitergehen ist der größte Moment von Freiheit, den wir erleben können.
Der Text erschien erstmals im Burgtheater Magazin #3.
Aus dem Englischen von Sebastian Huber.