Ein Theaterbericht aus den Alpen
Briançon ist eine Stadt in den Bergen, in den Alpen, nahe Marseille. Es heißt, Briançon sei die höchstgelegene Stadt Europas. Das Théâtre de Briançonnais hat die Compagnie L’Argile eingeladen, Eine kurze Chronik des künftigen China zu spielen. Die französische Erstaufführung fand am 10. November statt. Zwei Jahre lang hatte die Truppe recherchiert und gelesen, und nun endlich konnte ich mir die Inszenierung anschauen!
Es war sehr interessant zu sehen, wie unterschiedlich Eine kurze Chronik des künftigen China von verschiedenen Regisseur:innen, Schauspieler:innen, Teams gestaltet werden kann. Die Gemeinsamkeit aller Inszenierungen liegt in einer poetischen Natur. Sie ist Antwort auf die poetische Sprache des Theaterstücks, denke ich. In dieser Inszenierung spielten nur sechs Darsteller:innen (in meiner, in Hongkong, spielten zehn mit). Jeanne Peltier-Lanovsky spielte die Rolle »Der Außenstehende«. Das erste Mal, dass ich die Rolle mit einer Frau besetzt sah, war am Theater Lübeck. »Die Katze mit einem Loch« wird in dieser französischen Fassung von einer Puppe verkörpert. Das habe ich so zum ersten Mal gesehen. Die Aufführung war wirklich wunderschön, und die Regisseurin Angie Pict band manchmal chinesisches Puppenspiel ein. Interessanterweise fühlte ich mich dadurch wie in einem französischen Film.
Das Théâtre de Briançonnais zeigte eine öffentliche Vorstellung und drei Schulvorstellungen, insgesamt müssen es ungefähr 750 Zuschauer:innen gewesen sein. In Briançon wohnen ungefähr 12.000 Leute, das heißt 6,3 Prozent der Bevölkerung kamen zur Aufführung. Würden sich 6,3 Prozent der Menschen aus Hongkong, Lübeck, Gießen, Saarbrücken die Aufführungen anschauen, dann wäre das … So funktioniert das mit den Zahlen und Hochrechnungen natürlich nicht. Während einer der drei Vorstellungen für Schüler:innen war es besonders unruhig (so ist es mit den jungen Leuten, überall auf der Welt). Aber in den Gesprächen nach den Vorstellungen stellten sie viele interessante und bedeutungsvolle Fragen. Ein Schüler wunderte sich über die vielen »Glaub ich’s« und »Vielleicht’s« im Text. Das war noch nie jemandem aufgefallen. Ich sagte: Weil die Welt des Stücks so turbulent ist, ist sich der Protagonist ständig und mit allem unsicher.
Über vierzig Leute nahmen an diesen Gesprächen teil. Eine kurze Chronik des künftigen China handelt von Bewegungen (die Figuren gehen nach Norden, nach Süden) und Geflüchteten. Für mich war es überraschend, dass die Menschen in Briançon so berührt waren. Briançon liegt dicht an Italien und vor Jahrtausenden kamen die Italiener über die verschneiten Berge und griffen die Franzosen an; unzählige, in die Berge gebaute Burgen sind daher heute Sehenswürdigkeiten von Briançon. Heutzutage kommen aus Italien, zu Fuß und spärlich bekleidet, Geflüchtete. Die Regierung möchte die Flüchtlingslager schließen, doch trifft auf großen Widerstand in der Bevölkerung. Die Menschen hier finden, sie sollten ihr Bestes geben, um den Geflüchteten zu helfen. Draußen vor dem Theater ist ein Graffiti: »Refugees, welcome to bring your family«. Eine im Publikum sagte: »Ich habe erkannt, was jede Person wirklich im Herzen trägt, nachdem ich Eine kurze Chronik des künftigen China gesehen habe«. In einem der Gespräche mit den Schüler:innen sagte ich: Ich denke, das Wichtigste ist es, herauszufinden, was wir gemeinsam haben, nicht, was uns unterscheidet – vor allem in Kriegszeiten.
Von überall auf der Welt und mit diversen kulturellen Hintergründen kamen die Mitwirkenden der Produktion. Vielleicht fanden sie Eine kurze Chronik des künftigen China deshalb alle so interessant. Ich schrieb das Stück 2015, als ich noch in London studierte. Acht Jahre später wird es nun immer noch überall gespielt. Das hatte ich so nie erwartet. Es wurde in Hongkong, Taipeh, Saarbrücken, Lübeck und Gießen aufgeführt. Lesungen fanden statt in London, Berlin, New York, München, Mannheim, Guillestre, Mont-Dauphin, usw. Ich schätze es sehr, Menschen aus verschiedenen Kulturen kennenzulernen. Und ich denke, genau das braucht die Menschheit heute, immer und immer wieder die anderen Perspektiven einzunehmen. Nur so schützen wir uns davor, uns für den Mittelpunkt des Universums zu halten. Würden wir mit den anderen öfter ins Gespräch kommen, ihre Situation begreifen, wären wir vielleicht immun gegen das Grauen des Krieges.
Aus dem Englischen übersetzt von Emilie Sievert.
Une brève histoire du futur (A Concise History of Future China) am Théâtre de Briançonnais.
Autor: Pat To Yan
Regie: Angie Pict
Dramaturgie: Eric Schlaeflin
Bühne: Felix Doullay
Beleuchtung: Manon Deplaix
Puppenspiel: Arthur Méritan
Kostüme: Jeanne Peltier-Lanovsky
Darsteller:innen: Nina Klinkhamer, Jacques Mandréa, Jeanne Peltier-Lanovsky, Orelle Pernot-Borràs, Laora Gabert