Neben Hilflosigkeit, Wut und Trauer hat das Ergebnis unseres Referendums das Bedürfnis in mir geweckt, mich bei allen nicht britischen Europäerinnen und Europäern zu entschuldigen. Ich habe den Verdacht, dass es sich dabei nicht nur um ein Gefühl der Scham, sondern auch eine Art von Nationalstolz (Hybris) handelt; im Namen aller dummen und irregeleiteten Britinnen und Briten, bitte verzeiht vielmals.
Ich habe für »remain« gestimmt, natürlich. So wie die Mehrheit der Stadt, in der ich gerade lebe (London), und in dem Land innerhalb Großbritanniens, in das ich am häufigsten reise und wo ich am häufigsten arbeite (Schottland). Und wie 99,9 % meiner Freunde und Bekannten: größtenteils junge oder fast noch junge, gebildete, liberale, kunstaffine Großstädterinnen und Großstädter mit sicherem Aufenthaltsstatus … ach, ihr wisst schon. Ich weiß nur von einem Freund, der für »leave« gestimmt hat; er war auch der einzige »Brexiteer«, den ich während der ganzen Kampagne überhaupt getroffen habe.
Das Ergebnis war also eine sehr deutliche Erinnerung daran, dass die Mehrheit der Wähler in Großbritannien ihr Leben nicht so leben wie ich oder meine Freunde und Kollegen; und das ich, um ehrlich zu sein, nicht einmal kenne; und dass womöglich meine Wertvorstellungen stärker, als es mir gefällt, von den Privilegien jenes Lebens bestimmt sind, das ich mich entschieden habe zu leben. Ich habe die Entscheidungen darüber, wie ich leben will, selbst treffen können … wenigstens fühlt es sich so an … oder hat sich bis jetzt so angefühlt.
Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass auch die Mehrheit unserer demokratisch gewählten Vertreter im Parlament für den Verbleib Großbritanniens in Europa gestimmt haben. Das Ergebnis zeigt also vielleicht auch, dass die Mehrheit der Wähler in Großbritannien (na ja, eher in England und Wales) sich von ihren Spitzenpolitikern nicht vertreten fühlen.
Euch in eurer Außensicht auf Großbritannien hat das Votum womöglich schockiert und verwirrt … wie kann ein Land die Entscheidung treffen wollen, »sich ins eigene Bein zu brexiten«? (Eine Frage … Falls es jetzt sofort ein ähnliches Referendum in Deutschland gäbe, wüsstet ihr, was das Ergebnis wäre?)
Im Zuge der in den Medien zusammengebrauten, alles vergiftenden Hysterie kam es zu einem Kurzschluss von Themen wie EU-Binnenmigration, der Flüchtlingskrise sowie den zermürbenden Folgen einer Wirtschaftskrise und den daran anschließenden Sparmaßnahmen. Dies ist größtenteils unwidersprochen geblieben, obwohl die Fakten für alle unmittelbar zugänglich waren. Es scheint, dass die Gegenden, in denen die Unterstützung für den Brexit am stärksten war, zufällig auch Gegenden mit unterdurchschnittlicher Einwanderung sind. Sie sind außerdem die am wenigsten wohlhabenden Regionen und werden ein Schrumpfen der Wirtschaft infolge des Brexits am stärksten zu spüren bekommen.
Die Argumente für ein Verlassen der EU waren bestenfalls vage, schlimmstenfalls Lügen. Wurden sie wirklich von Millionen Menschen geglaubt? Ich bezweifle es. Hat das überhaupt eine Rolle gespielt? Ganz sicher nicht.
Es kommt mir deshalb nützlicher vor, darüber nachzudenken, wogegen statt wofür die Wähler gestimmt haben könnten: gegen »all das«, was immer »all das« ist, gegen den Status quo.
Ich glaube, eine Menge Unglücklicher hat die einmalige Gelegenheit ergriffen, auf bedeutsame Weise ihre Handlungsmacht unter Beweis zu stellen und ihrer Unzufriedenheit Gehör zu verschaffen. Dass ich den Brexit für einen irrationalen, wahnhaften Akt der kollektiven Selbstverletzung halte, ist irrelevant. Es spielt keine Rolle. »Wir« machen den Brexit. Pech gehabt.
Falls sich vor der Abstimmung das Leben in Großbritannien für viele unsicher angefühlt hat, wird es das jetzt womöglich noch viel mehr tun. Und ich nehme an, dass darin vielleicht ein Mehr an gegenseitigem Einvernehmen oder Verständnis füreinander gesucht werden kann.
Dessen ungeachtet folgen die Gespräche zwischen meinen Mit-»Remainern« einem ziemlich einheitlichen Muster: Stimmungsbild – kommende Wirtschaftskrise – der Aufstieg der Rechten / der Niedergang der Linken – Urlaubskosten – die Schlange für Nicht-EU-Bürger bei der Einreise; bevor es mit weniger bedrückenden Diskussionen darüber weitergeht, wohin in der Welt wir auswandern könnten. Ganz ohne Ironie. Und falls sich irgendeiner Sorgen darüber macht, was für eine Art von Empfang (wenn überhaupt) uns im Ausland erwarten könnte, dann scheint keiner sie äußern zu wollen. Wir sind schließlich Briten.
Wie ihr sicher merkt, fällt es mir schwer, das Positive an alldem zu sehen. Der Scherbenhaufen namens Labour-Fraktion im Parlament ist so offensichtlich, dass ich mittlerweile glaube, wir leben in einem Einparteienstaat. Die Abwanderung einiger Stammwähler aus der Arbeiterklasse zu einer rechten Partei wie UKIP, wo sie das Gefühl haben, ihre Anliegen werden aufgegriffen und ihre Identitäten anerkannt, ist beunruhigend. Dass einige britische »Bürger« das Ergebnis als Lizenz nahmen, ihren Fremdenhass und Rassismus offen und dreist nach außen zu kehren, ist erschreckend. Ich konnte nicht einmal lachen, als Boris Johnson zum Außenminister ernannt wurde.
Nehmt den Brexit bitte nicht persönlich, es ist wegen uns, nicht wegen euch, und das alles hätte nicht passieren dürfen, und ich entschuldige mich vielmals für jede Art von Verwirrung und Unannehmlichkeit, die wir euch bereitet haben und die wir euch womöglich in Zukunft noch bereiten werden.
Aus dem Englischen von Hannes Becker