Auf keinen Fall mehr als dreihundert Seiten!, höre ich noch die Warnungen aus Buchhandlung und Vertriebsabteilung des Verlags hallen. Zweihundert sind besser, noch besser hundertfünfzig, wenn man ein Buch nicht zum ewigen Ladenhüter und bald schon Lagerhüter verdammen will. Schön, schön, aber das war tatsächlich gestern, vor zwei Wochen, im letzten Jahr. Die Zeiten haben sich rapide entschleunigt. Was wollen wir derzeit mit hundertfünfzig-Seiten-Büchlein? Damit kommen wir nicht mal durch einen einzigen Tag, und was ist momentan schon ein Tag? Nur der Vorlauf zum nächsten. Schmale Bücher sind wie Zigaretten, die ihren Siegeszug einst gegen Zigarre und Pfeife antraten, weil in der Hochgeschwindigkeits-Arbeitsgesellschaft keine halbstündigen Raucherpausen gewünscht waren. Gerade bräuchten wir halbwöchige Raucherpausen, wäre noch guten Gewissens zum Rauchen zu raten. Wohl aber zu Büchern mit mehr als tausend Seiten. Und es gibt nicht nur Knausgård.
Boccaccio: Das Dekameron
+ Klar, finden Sie jetzt nicht so originell, das haben Sie in letzter Zeit schon mindestens zehnmal empfohlen bekommen. Aber das mit Grund! Nicht nur, weil es thematisch passt: Es ist abwechslungsreich, es erzählt uns etwas über das 14. Jahrhundert, das in vielem auch nicht besser oder altruistischer war als die viel gescholtene spätkapitalistische Zeit, und es ist über Strecken wie ein kostenloser Pornosender, zudem ein origineller.
– Die Darstellung der Kirche und ihrer Angehörigen ist nichts für sensible Seelen, ob gläubig oder antiklerikal, und wer gerne glauben will, dass Menschen generell oder zumindest partiell gut zueinander sind, sollte lieber → Victor Hugo lesen. Oder doch den in Italien mittlerweile kostenlosen Pornosender schauen. Außerdem haben Sie das Dekameron wahrscheinlich schon letzte Woche gelesen.
Reclam, 1070 Seiten.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
+ Wenn Sie nächstes Jahr wieder auf einer Akademikerparty in der Küche stehen, können Sie in dem kleinen Gesprächskreis mitmischen, der bislang nur aus den beiden Romanisten und der literaturaffinen Medizinerin bestand, die sich im Jahrestakt darüber informierten, bis zu welcher Seite der Recherche (wie die Eingeweihten sagen) sie im letzten Frankreich-Urlaub gekommen sind. Ha! Und Sie sind in einem Rutsch fünfhundert Seiten weiter. Zudem: Das Zeitempfinden dieses Buches passt genau in die derzeit nicht unbedingt freiwillige Entschleunigung. So sehr die Langsamkeit und Ausführlichkeit von Prousts Erzählen in hektischer Zeit nah an einer Belastungsprobe ist, so entlastend wirkt es jetzt. Wir spüren, was Zeit auch sein kann, und erfahren zudem, was das Pariser Bürgertum im späten 19. Jahrhundert umtrieb. Marcels Liebesannäherungen sind zudem so vorsichtig, zaudernd und umständlich, dass man auch in zwei Jahren noch damit beschäftigt wäre, wollte man ihm als Beziehungsratgeber folgen. Hoffen wir mal, dass bis dahin die Normalität der Küchenpartys zurückgekehrt sind.
– Bei mir verursachen die langen Sätze einen unbedingten Bewegungsdrang. Bitte vorher Wohnungsgröße (ggf. Treppenhaus) prüfen. Und wer gerade mehr klassenkritischen, antibourgeoisen Lesestoff sucht, ist hier schlecht aufgehoben, nach subjektivem Empfinden immerhin etwas besser, da selbstzweifelnder als bei → Thomas Mann.
Suhrkamp Taschenbuch, 4195 Seiten in drei Bänden.
Thomas Pynchon: Mason & Dixon
+ Ein bisschen wie Die Vermessung der Welt in durchgeknallt und weniger bieder. Und vor allem: mit viel, viel mehr Seiten! Es ist lustig, klug, hart, meta, es gibt einen sprechenden Hund und eine mechanische Flugente. Wann wollten Sie jemals so gern eine Flugente sein wie jetzt?
– So sehr nach einem sprechenden Hund haben Sie sich aber auch seit Ihrer Kindheit nicht mehr gesehnt. Und wieder müssen Sie feststellen: Sie werden ihn einfach nicht bekommen.
Rowohlt Taschenbuch, 1023 Seiten.
Die Bibel
+ Vermutlich das Werk, das am häufigsten genannt wurde auf die bislang hypothetische Frage, welches Buch man auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Jetzt ist die Gelegenheit! Es ist vielstimmig und variantenreich erzählt. Es gibt mehr Protagonisten, als sie Menschen in ihrem Freundeskreis haben. Einige Geschichten sind atemberaubend zeitlos, und Hiob ist derzeit eine gute Vorlesegeschichte, auch die Arche Noah und die Evangelien. Und, klar, auch hier zeigen Verlauf und Wesen der Zeit ein paar erstaunliche Facetten, ewiglicher noch als bei Mann und Proust. Weiterer Vorteil: In vielen Haushalten ist ein Exemplar ohnehin schon vorhanden, man kann also gleich anfangen und sicher sein, noch vor den Evangelien wird die Lieferung des nächsten 1000-Seiters angekommen sein. Auch als Hörbuch zu haben, 88 Stunden, Sie sollten die Stimme von Rufus Beck dafür mögen.
– Falls Sie Fan werden: Öffentliche Gottesdienste sind derzeit untersagt.
Herder, 1878 Seiten.
Victor Hugo: Les Misérables
+ Wer keine Lust auf bourgeoisen Mist und Klassendünkel hat, kann hier mehr Mitstreiter finden als bei Mann oder Proust. Wer sich einreden möchte, dass Menschen gut zueinander sein können, zumindest einige, zumindest manchmal, ist hier besser oder moderner aufgehoben als bei Boccaccio. Außerdem gehören die Väter-Geschichten zu den rührendsten, die ich kenne (und progressiv-emanzipierter als etwa Ibsen, der viel zu knapp schrieb, um hier zu erscheinen).
– Die gängige deutsche Übersetzung ist gekürzt, das ist jetzt wirklich nichts fürs Sie. Vielleicht nehmen Sie das Buch zum Anlass, endlich Ihr Französisch aufzubessern.
Folio classique, 1900 Seiten in zwei Bänden.
David Foster Wallace: Unendlicher Spaß
+ Zugegeben, mein Geschmack ist es nicht, ich habe es nach dreihundert Seiten weggelegt, bis dahin ging es viel um Tennis, und Tennis interessiert mich wirklich nicht. Ich weiß, dass es in meinem Freundeskreis große Fans gibt, irgendwas ist also bestimmt dran.
– Möglicherweise depressionsfördernd, aber vielleicht auch nur, wenn man wirklich so gar nichts mit Tennis anfangen kann.
Kiepenheuer und Witsch, 1548 Seiten.
Arno Schmidt: Zettelʼs Traum
+ Wenn die Vorschläge Sie bis hierhin intellektuell unterfordert haben, könnte dies Ihr Buch sein. James Joyceʼ Finnegans Wake haben Sie schon zu oft gelesen, um damit noch ein paar gute Tage zu haben. Bei Arno Schmidt wird das, was Sprache ist, noch weiter vom Koppelzaun des Gewöhnlichen weggetrieben. Mit einer Seite können Sie sich gut eine halbe Stunde beschäftigen, und es gibt viele davon. Zudem ist Schmidt hundsklug und krachend komisch, was Sie spätestens dann merken, wenn Sie sich an die Interpunktion gewöhnt haben.
– Wenn Sie auf einer Akademikerparty damit auftrumpfen wollen, sollten Sie die möglichst in der Arno-Schmidt-Stiftung feiern. In allen anderen Küchen hat womöglich trotz Quarantäne niemand mehr als Schmidts Frühwerk geschafft.
Suhrkamp, 1536 Seiten.
David van Reybrouck: Kongo – eine Geschichte
+ Wenn wir uns schon während Ebola nicht für den Kongo interessiert haben, weil die Krankheit schön brav im entwicklungsländlichen Kontext blieb und wir uns nicht von unserer Wohlstandsignoranz verabschieden mussten, können wir uns nun, da auch die Industrienationen wegen einer gesundheitlichen Krise lahmgelegt sind, darüber Gedanken machen, was Kolonialismus und die Ausbeutung der restlichen Welt durch Europa eigentlich bedeuten. Und an der Demokratischen Republik Kongo, die in westlichen Nachrichten allenfalls kurz mit ihren Krisen aufscheint, deren Bodenschätze in unseren Wirtschaftsketten dafür überpräsent sind, zeigt sich das paradigmatisch. Reybrouck zeichnet das Porträt eines großen, widersprüchlichen und faszinierenden Landes, das weltpolitisch immer wieder die beschissensten Karten zugesteckt bekam.
– In die Liste geschummelt: Das Buch hat nicht mal 800 Seiten.
Suhrkamp, 780 Seiten.
Thomas Mann: Der Zauberberg
+ Das Buch zum Film, den wir gerade leben. Gerne wären wir nur Zuschauer, aber die Kinosäle haben ja derzeit dicht, also spielen wir selbst mit und kommen aus dem Film nicht raus. Wir kurieren uns in Liegestühlen in der Sonne und trinken Milch, in der Hoffnung, das möge doch alles nicht so schlimm und mit solchen Mitteln zu handhaben sein. Wir wissen selbst gut genug, dass es wahrscheinlich so nicht ganz ist. Auch hier spielt die Zeit eine besondere Rolle, und Thomas Mann kann extrem lustig sein, das merkt man umso besser, wenn man nicht gerade durch äußere oder innere Hektik Anstoß an seinen mitunter langatmigen Beschreibungen und Überlegungen nimmt.
– Die Lungenklinik in Davos gibt als Schauplatz wenig Abstand zu den uns umgebenden Sorgen. Das muss man abkönnen. Bitte vorher überlegen, ob Sie das nicht eher bedrückt. Wenn Sie überdies leicht von Protagonisteneigenschaften affizierbar sind, könnten Mattigkeit und Müdigkeit zunehmen. Und marxistisch ist das alles hier auch nicht.
Fischer Taschenbuch, 1002 Seiten.
Antonio Gramsci: Gefängnishefte
+ Endlich, das hier ist wirklich marxistisch. Und auch noch klüger als vieles, was nach Marx benannt ist. Antonio Gramsci denkt während seiner über zehnjährigen Haft zur Zeit der faschistischen Diktatur in Italien darüber nach, was Macht ist, was der Staat, welchen Einfluss die Zivilgesellschaft, welchen Populärkultur hat, wann ein Umsturz möglich, wann wahrscheinlich ist, wie es mit Lenin weitergeht, und über vieles mehr. Wir lernen, wie präzise jemand aus der Abgeschiedenheit heraus die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu analysieren vermag. Die fragmentarische Struktur ist den Entstehungsbedingungen geschuldet, die uns zudem daran erinnern, dass unsere Wohnung und der Weg zum nächstgelegenen Supermarkt, wie wenig wir beides auch grad ertragen, ein unglaublicher Luxus sind.
– Mitunter etwas trocken. Wer es wärmer und auch mal humorvoll haben will, bestellt sich gleich noch Gramscis Briefe aus dem Gefängnis dazu.
Argument-Verlag. Viele viele Seiten in zehn Bänden.
Es gibt noch so viel mehr: Ulysses natürlich, Der Mann ohne Eigenschaften, 2666, Tristram Shandy und Krieg und Frieden. Es gibt Harry Potter und Es, es gibt Nino Haratischwilis Das achte Leben, Clemens Setz‘ Die Stunde zwischen Frau und Gitarre oder Navid Kermanis Dein Name, von Nádas die Parallelgeschichten, von Habermas Auch eine Geschichte der Philosophie, Kants Kritiken, dazu als Gegenstück Die feinen Unterschiede von Bourdieu (Achtung! Nur 912 Seiten), Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (derzeit mehr Vorstellung als Wille). Es gibt noch einiges. Halten Sie durch, bleiben Sie gesund.