Einar Schleef wäre am 17. Januar 2024 80 Jahre alt geworden – ein Anlass, seine Texte neu zu entdecken.
Nina Peters: Das Theater sollte Schleef heute spielen – warum eigentlich?
Hans-Ulrich Müller-Schwefe: Vor allen aktuellen Bezügen, vor allen großen und kleinen Themen, vor Groteske und Tragik spricht für Schleef die Sprache. Sprache, die sich der Stotterer Schleef erobert hat: rhythmisch, kraftvoll, energisch, mit einer unheimlich körperlichen Präsenz, einer Wucht.
Darin liegt alles beschlossen; Eigensinn, Zuspitzung, Widerstand. Mit der Sprache nimmt jedes Problem Gestalt an, eine Gestalt, die sich behauptet, die nicht wegzuwischen ist. In Schleefs Sprache läuft keine ohne Buckel (aus Schmerz und Leid, Gewalterfahrung, Zurichtung, Armut) herum. Die Stärke dieser Buckligen ist erschreckend –
Dem Stotterer Schleef, seinem Leben und Werk, hat Henning Burk, der selbst stottert, einen lesenswerten Text gewidmet, Enthemmung. Ich bekam einen anderen Blick auf den Impuls dieser komprimierten Kunstsprache, die den Inhalt schärft. Auf den Rhythmiker Schleef, das Raumfordernde seiner Tagebücher, der Inszenierungen und Soloauftritte. Enthemmung auch als Reaktion auf die Gewalt durch den Vater, der Schleef scheinbar stoisch begegnete, im Gespräch mit dem SPIEGEL sagte er lapidar: »Für mich waren Tritte und Schläge eher eine ‚Durchblutungsfrage‘.« Schleefs Sprache hat im Chor Ausdruck gefunden, er hat den antiken Chor für das Theater wiederbelebt …
In den Auftritten des Chors wirkt die Sprache am stärksten. Was es geschichtlich, theatergeschichtlich mit der Rolle des Chors auf sich hat, ist von Schleef (in Droge Faust Parsifal) beschrieben worden.
Faszinierend an diesem Langessay sind die Akribie und Hingabe, mit der Schleef der Literatur anderer bis in die kleinste Silbe nachgeht. Die Intensität seiner Selbstbeobachtungen. Wie er alltägliche Bilder aufruft zur Verdeutlichung ästhetischer Wirkung. Auf dem Vorplatz (vor dem Palast) des Schauspiels Frankfurt entdeckt er einen zeitgenössischen Chor – aus Obdachlosen.
Die Wirkung seines Chors auf der Bühne beschäftigt mich bis heute – eines Chors, der nicht virtuos aufgefächert oder individuell ausfransend auftritt, sondern in dieser sagenhaften Geschlossenheit. (Sie war, sagt Schleef, mit Kindern, Jugendlichen, Laien einfacher zu erreichen als mit Schauspielprofis). Es ist, als löste sich etwas von den ChoreutInnen ab, um ‚selbst‘ zu tönen: sagenhaft mächtig, bedrohlich, zurückstoßend, mitreißend …
Mütter, 1985 Schleefs erste von sechs Arbeiten am Schauspiel Frankfurt, hielt er selbst für seine beste, die Kritik verriss sie einhellig. Ich frage mich, wieviel Ressentiment gegenüber dem Ostdeutschen mitschwang – das etwa auch die Kritiken der im Westen uraufgeführten Theatertexte von Thomas Brasch, 1976, einige Jahre vor Schleef übergesiedelt, prägten. Wie hast Du den Ostdeutschen Einar Schleef erlebt?
In der ersten Zeit empfindlich, wehleidig, erregt, heftig; aus einem Nest gefallen, fremd. Dort, wo er herkam, schmeckte das Essen besser, war der Sex besser … Eher als ostdeutsch habe ich ihn als anziehend befremdlich und eigen erlebt. Immer trat, mit ihm gemeinsam, die Welt so, wie er sie sah, auf den Plan. Ideologische Sprache, wie kritisch auch immer gewendet, konnte man mit ihm vergessen – einer der Unterschiede zu intellektuellen DDR-Autoren wie Thomas Brasch, Volker Braun, Heiner Müller.
Mütter ist heute relevant: Weil es, dramaturgisch wie sprachlich faszinierend, eine Geschichte vom Krieg erzählt, die nah geht. Weil Frauen im Mittelpunkt stehen. Ihr habt die Fassung, die Neuübersetzung und Bearbeitung zweier antiker Stücke von Aischylos und Euripides gemeinsam geschrieben. Warum Mütter?
Wir haben gemeinsam geschrieben, aber eigentlich ging ich Schleef mit meinen Altgriechisch-Kenntnissen und angelesenen Kenntnissen (über Homosexualität im alten Griechenland usw.) zur Hand. Die Endfassung stammt von Schleef. Er hatte den Stoff, die Idee (der Verbindung der beiden Stücke in zeitlich umgekehrter Reihenfolge) mitgebracht. Dass es sich um eine zeitlos betroffen machende, große Geschichte handelt, konnte mir nicht verborgen bleiben. Hinzu kam Schleefs Mutter-Roman Gertrud. Die beiden umfangreichen Bände lagen vor, sie hatten mich als Lektor längere Zeit beschäftigt. Schleef selbst war im Verlauf dieser Arbeit zu seiner eigenen Mutter geworden – und diese in der Folge, wie spätere Äußerungen von ihr nahelegen, zu der literarischen Gertrud-Gestalt ihres Sohns!
Der Stoff interessierte uns als Stück über den Krieg; über Mütter und Söhne; über Machthunger und Feindschaft unter Brüdern; über Angst und Wut junger Frauen; über die Vielen unten gegen die Wenigen oben; über Kriegsopfer: Witwen und Waisen, die zu Kriegstreiberinnen werden. Weil es ebenso streng gebaut wie ausgreifend exzessiv ist. Weil es keinen Ausweg bietet. Weil es ein Stück der geschliffenen Verzweiflung ist. Weil es Chormacht behauptet. Weil es ein Stück der Frauen ist.
In dem filmischen Porträt »Einar Schleef. Eine Zumutung« von Julieta Rudich (zu sehen auf youtube), erzählt Schleef vom Casting seines Frauenchors in Frankfurt. Sein Interesse galt einem Frauenchor mit einem hohen migrantischen Anteil, lange bevor das Theater den Anspruch entwickelt hat, die gesamte deutsche Gesellschaft abzubilden. Erinnerst Du besondere Momente der Zusammenarbeit mit diesem diversen Chor?
Nein. Schleef gefiel die Fremdheit, die Fremdheit der Töne, die Unregelmäßigkeit der Sprache, das nichtroutinierte Verhalten. Es gab nicht den leisesten Anflug einer Überheblichkeit. Er war nicht einheimisch (nicht in der BRD, nicht in Frankfurt, nicht in diesem Theater) und die Chorleute auch nicht, das verband.
Heiner Müller schrieb 1992 anlässlich der Ausstellung »Republikflucht. Waffen. Stillstand. Heimkehr« in der Akademie der Künste einen schönen Text: »Zu den wenigen Menschen, die ich manchmal beneide, gehört Einar Schleef.« Und: »Zu bedauern bleibt, daß die erste Einar Schleef Ausstellung auf diesem Territorium sein Theater nicht zeigen kann, einen neuen Spielraum zwischen Aischylos und Popkultur, das den Chor zum Protagonisten macht, weil es die Geburt des Protagonisten aus der Unterwerfung der Frau nicht akzeptiert.« Schleef hat die Rolle der Frauen beschäftigt, nicht im Sinne einer Verherrlichung, in Mütter werden die Frauen am Ende zu Kriegstreiberinnen. Es geht ihm um eine Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt, um eine Wiederbelebung der Tragödie. Als Impuls gegen die Vaterwelt? Und es spielt Schleefs genauer Blick auf das Unten gegen das Oben hinein. Welche Texte sind mit Blick auf das Theater noch wichtig?
Ich liebe Schleefs verschärften sozialen Realismus: natürlich in Gertrud, also im Großformat, aber genauso, handlicher, in den Erzählungen, gesammelt in Die Bande (Suhrkamp) und in Ich habe kein Deutschland gefunden (Elfenbein); separat erschien Zigaretten.
Ohne die Mauer wäre die Erinnerungsarbeit Gertrud vermutlich nicht entstanden. Vom westdeutschen »Exil« aus erschrieb sich Schleef »Heimat«. Gertrud wurde oft adaptiert und gespielt. Auch die Erzählung Tod des Lehrers aus Die Bande, Gertrud in nuce. Der »verschärfte soziale Realismus«, der heute so wichtig ist, findet sich auch in den Überschreibungen von Hauptmann oder Wilde, in Die Schauspieler nach Gorki. Oder in Schleefs Komödien – Schleef konnte Komödie –, Totentrompeten 1 – 4 erzählt davon.
Mitten in der DDR – lange nach Tschechow und lange vor Putin – wollen drei alte Schreckschrauben einmal noch raus aus der Kleinstadt, raus aus den Enttäuschungen ihres Lebens (ein Stichwort: Männer). Eine von ihnen hat eine Reise gewonnen. Nach Moskau! Heißt daraufhin die Parole für alle drei. Es ist eine Boulevardkomödie in vier Teilen; eine Provinzposse mit Tiefgang, Witz und Tücke. Sie bietet drei Paraderollen für ältere (oder auch jüngere) Schauspielerinnen.
Ja, Schleef konnte Komödie. Ein anderes Beispiel: die Erzählung Das Denkmal (in Die Bande). Oder Lange Nacht, Schleefs komisch-verzweiflungsvolles Endspiel für zwei, dann drei Personen. Der auch nicht mehr junge Sohn versucht die alte Mutter dazu zu bewegen, endlich ins Bett zu gehen. Die wehrt sich vehement, und in der folgenden Auseinandersetzung kommt zwischen den beiden ‚alles‘ auf den Tisch, es hagelt Vorwürfe und Unterstellungen. Der Sohn aufgebracht fürsorglich, die Mutter klagend und angriffslustig verbockt. Lange Nacht ist ein in die Verlängerung gehendes großes Scharmützel kurz vor dem Blackout (das bisher nicht uraufgeführt wurde).
Was fehlt?
Um Mutter und Sohn dreht sich auch Nietzsche Trilogie (eigentlich ein Stück für einen Abend, in drei Teilen), genauer um den kränkelnden Patienten (Nietzsche), der im Naumburger Haus der Mutter von dieser und der Schwester (Elisabeth) handgreiflich versorgt, präpariert und bei einem Essen ausgewählten Gästen tanzend und deklamierend vorgeführt wird – fast wie im Zirkus.
Natürlich erinnere ich mich bei der Gelegenheit an den grandios funkelnden und schillernden, aus Nietzsche-Texten gefügten Monolog, den Schleef selbst sowohl separat als auch im Zusammenhang der Inszenierung des Verratenen Volks (2000 im Deutschen Theater Berlin) zu Gehör brachte.
Hans-Ulrich Müller-Schwefe war seit 1977 Lektor und dramaturgischer Berater an der Seite von Einar Schleef.
Einar Schleef wurde am 17. Januar 1944 in Sangerhausen geboren und starb am 21. Juli 2001 in Berlin. Er ist heute hauptsächlich als Dramatiker und Regisseur bekannt, arbeitete aber auch als Bühnenbildner, Maler und Schauspieler. Zu seinen zentralen Werken zählen der Roman Gertrud und das Theaterstück Nietzsche Trilogie. Er wurde mit seinen Stücken mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen und erhielt neben zahlreichen anderen Preisen auch den Mülheimer Dramatikpreis 1995.
Das Gespräch ist eine Erweiterung der im SuhrkampTheater Magazin 2024 erschienenen Fassung.