Landschaftspflege
In dem Buch Menschen am Fluß … wie lange noch? habe ich folgende Stelle gefunden:
»Den Protest einiger Wilstermarschbewohner symbolisiert ein verwittertes Schild ›Schönes Dorf‹, das am Ortseingang von Wewelsfleth steht. Bürgermeister Sachse lehnte es aber ab, dieser in vielen Wettbewerben errungenen Auszeichnung einen neuen Anstrich zu geben. Wewelsfleth hat kein Interesse mehr daran, sich an der Landesausscheidung ›Unser Dorf soll schöner werden‹ zu beteiligen. Sachse: ›Ich möchte unsere Bürger nicht mehr zum Papierauflesen oder zur Pflege ihrer Vorgärten aufrufen, wenn sie zu den entscheidenden Veränderungen ihres Lebensraumes überhaupt nicht oder nur formal gehört werden.‹
Einer, der stets gegen das Atomkraftwerk Brokdorf war, hat sich auf besonders delikate Weise zurückgezogen: Günter Grass vermachte der Stadt Berlin im Januar 1985 sein hübsches, im Schatten des Atomkraftwerks gelegenes Haus in Wewelsfleth. Nach seinem Willen sollen dort künftig junge Schriftsteller arbeiten können. Kommentar in der F.A.Z.: ›Wewelsfleth in Schleswig-Holstein – das klingt jedenfalls nach Stille. Der Aufenthaltsort bedeutet Zurückgezogenheit. Er gibt Geborgenheit und verlangt dafür Entsagung.‹«[1]
Geborgenheit
Im Januar 1985 wusste ich von nichts. Im Sommer 1986 lernte ich lesen und wie einige Kinder in der BRD auch das Fürchten: Plastikplanen auf Sandkästen sollten uns vor der atomaren Bedrohung schützen. Die Ferien verbrachte ich auf dem Land und fand Löwenzahnblätter, länger als meine Arme. Nicht viel später erschienen Jugendromane über die ökologische Apokalypse, dystopische Visionen kursierten – »im Jahr 2011 wird vom Schwarzwald nur noch ein abgeknickter Baum übrig sein!« –, daneben verblüffend einfache Handlungsanweisungen: Kein Licht brennen lassen, das man nicht auch benutzt, auch zum Papierauflesen wurde aufgerufen.
Zwanzig Jahre später war es um den Schwarzwald dann doch nicht so arg bestellt. Um die Natur sorgte ich mich zwar nach wie vor. Aber inzwischen hatte auch ich gehört, dass es sie eigentlich nicht gibt, ein vielfach bearbeitetes Wunschbild. So ideologisch und fragwürdig wie das vom in Entsagung und Zurückgezogenheit schaffenden jungen Schriftsteller. Von jungen Schriftstellerinnen gar nicht zu reden. Ich bewarb mich trotzdem als junge Schriftstellerin in dem verschenkten Haus in Wewelsfleth, 2009 war ich zum ersten Mal hier und bin es jetzt, 2013, schon wieder.
Was die Stille anging, irrte die F.A.Z. 1985. Nur weil ein Dorf hoch im Norden und unterhalb des Meeresspiegels liegt, muss es nicht still sein. Allzu still halten wäre gerade hier wahrscheinlich überhaupt nicht gut. Es wäre vielleicht sogar für das Schreiben schlecht, wenn nicht ringsum gearbeitet, geschert und gesägt, geliefert und weggebracht, gemäht und vertikutiert würde. Nicht um beim Wettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden« (mittlerweile: »Unser Dorf hat Zukunft«) eine Medaille zu gewinnen. Es ging um etwas Dringlicheres, aus sich heraus Begründetes. Nur bei den jungen Schriftstellern war es nicht sicher, wozu sie sich hier aufhielten. Ich hörte, es hieß, wir machten in dem alten Haus lange Ferien. »Nicht nett«, dachte ich erst, gewöhnte mich aber schnell daran, es selbst so zu sehen. Ich hatte und habe ja auch kein besseres Wort für diese Beschäftigung, die so wenig Mehrwert produziert. Arbeit wollte ich sie nicht nennen.
Einen Auftrag hätte ich doch ganz gern gehabt. »Schauen Sie genau hin, beachten Sie die Gegenwart, wagen Sie etwas ganz Eigenes, überraschen Sie uns und sich selbst mit einem kleinen Experiment!«, hatte man uns bei der Berufsberatung für Jungautoren nahegelegt. »Man muss sehen, dass Autoren/Figuren/Texte etwas wollen/wagen!« – »Passen Sie sich nicht den Erwartungen an, machen Sie doch einfach einmal, was Sie wollen!« Ich wollte mich vor allem konzentrieren. Auch die Figur wollte das. Aber all diese Wünsche und Befehle. Ein einziges Durcheinander.
»Das ist doch, was du immer gewollt hast«, meinte ein Bekannter, als ich zwei Jahre später an einen Verlagsvertrag und eine Einladung nach Klagenfurt gekommen war. Er gratulierte, ich bedankte mich, obwohl es doch kläglich klang: Dass dies das Ziel aller Träume gewesen sein sollte, Text anbieten, auf Lob hoffen.
Nach dem Bewerb las ich: die Kollegen aus Hildesheim und ich hätten uns wohl gut überlegt, wie wir uns inszenierten, auch dass wir darum nicht herumkämen, wüssten wir wohl, und da hat der Journalist vielleicht recht gehabt. Eine der vom ORF engagierten Übersetzerinnen bloggte, ihr gefielen meine Haare nicht. Wo ich sie eigens hatte schneiden lassen, damit in der Maske nichts Unkontrollierbares geschah. Eine Feuilletonistin vermisste in fast allen vorgetragenen Texten das echte Leid und die echte Dringlichkeit.
Später kamen weitere Fragen: wieso ein Lehrer, waren oder sind meine Eltern Lehrer? Lehrerbücher gerade Mode, wollte ich Kritik üben am deutschen Schulsystem? Hatte ich auch privat mit den Problemen der Figuren zu tun − Unsicherheit und Überheblichkeit? Ob ich gärtnerte wie eine der Figuren, und wenn nein, hatte ich wenigstens ein anderes interessantes Hobby? Hatte oder habe ich einen Plan B? Das ist jetzt über ein Jahr her. Andere, die ihren Figuren noch ähnlicher zu sehen scheinen, werden noch erstaunlichere Dinge gefragt. Wollte ich meine Ruhe, einfach nur meine Ruhe, hätte ich besser nichts veröffentlicht. Ich bin dankbar für fast alle Missverständnisse und froh über Öffentlichkeit. Im besten Fall ein Ort, wo nicht nur Produktbewertungen und Wunschlisten mitgeteilt werden. Es könn(t)en ja auch mal Gespräche stattfinden: Warum wollen wir jetzt dieses oder jenes schreiben oder lesen, warum und wozu gerade dieses gerade jetzt.
Aber warum nur wird darüber geredet, ob Autoren genug leiden, warum dieser Echtheitswunsch? »Kein Wunder«, heißt es dann, »in Zeiten wie diesen«, wo all die Zeichen so flüchtig und gar nicht zum Anfassen sind. Das kann man so sehen, und man kann auch mehr Aufgerautes wünschen und weniger gecoachte Beflissenheit, weniger fleißig aufgeschriebene Relevanz, stattdessen: Dringlichkeit. Wann besteht sie und woran sehen wir das?
So, wie ich Papierbücher aus Geruchsgründen verteidigen würde, glaube ich, dass gute Texte von Widersprüchen handeln und von Menschen gemacht werden, die damit Erfahrung haben. Man kann die Frage interessanter stellen. Julia Schoch zum Beispiel zweifelt, ob unbehelligte Menschen taugen für die Literatur. Wenn ich sie richtig verstehe, geht es ihr nicht um die privaten Probleme von Literaturproduzierenden, sondern darum, wie man das flexible Unglück in halbelastischen Räumen zu fassen kriegt. Welche Form sich dazu eignet.
Kürzlich wurde in der Mehrzweckhalle von Wewelsfleth eine Debatte veranstaltet: Armes Deutschland, reiches Deutschland? So hatte es auf den Plakaten gestanden. Gesprochen wurde über Umverteilung und Philantropie. Am Ausgang verkaufte Günter Zint, der Fotograf und Mitherausgeber des oben zitierten Buches Menschen am Fluss … wie lange noch?, seine Bilder: Panzer und Militärhubschrauber über den Äckern um Brokdorf. Eine ältere Dame steht vor einem Bataillon Schutzmänner. Sie trägt eine Strickmütze, schaut ungehalten und unbewaffnet. Wie die Schutzmänner schauen, ist hinter ihren Schilden und Visieren nicht zu sehen. Ich kaufte ihm das Bild ab, ein wertvolles Fundstück aus einer vergangenen Zeit. Der Reaktor steht jetzt eingefriedet im Festungsgraben, darin schwimmen Schwäne. Gleich nebenan: ein Freibad mit Slalomrutsche und ein unbegradigtes Stück Elbstrand, wo gefischt und gebadet wird. Die Anlage des Kraftwerks ist begrünt, Buchsbäume im Kugelschnitt säumen die Wege. Es gibt keine Störfälle hier, versicherte der Pressesprecher uns bei der Besichtigung, auch keine Störungen des Ablaufs. Allerhöchstens Vorkommnisse. Ich hoffe, er behält recht und niemand macht etwas falsch. Im Haus liegen keine Evakuierungspläne und keine Jodtabletten mehr aus. Als wäre jetzt wirklich gar nichts mehr zu befürchten.
[1] Zitiert aus: Menschen am Fluß … wie lange noch? Die Vernichtung von Lebensraum an unseren Gewässern und Versuche einer Rettung. (Hg.: Inge Kramer/Günter Zint; Hamburg, Zürich: Rasch und Röhring, 1985)