50 Jahre »suhrkamp taschenbuch wissenschaft«
Ich muss mit einem Geständnis unter Kolleg:innen beginnen: Als Wissenschaftslektor passiert es immer wieder, dass mir Bücher, die ich machen möchte, durch die Lappen gehen, weil ihre Autor:innen die Möglichkeit haben, in der Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft zu publizieren. Ich kann dann auffahren, was ich will – gebunden mit Schutzumschlag, prominente Platzierung in der Vorschau, sogar den Luxus eines Lesebändchen –, es hilft meist nichts: Wer als Sozialwissenschaftlerin oder Geisteswissenschaftler in der schlichten blauschwarzen Broschur der stw mit ihrer bunten Titelschrift publizieren kann, tut das. Der Reihe ist gelungen, was viele Wissenschaftsreihen seit den 1950er-Jahren versucht haben: Die Bücher, die hier erscheinen, genießen die Aufmerksamkeit ihrer Fachgemeinschaft, sind für Studierende erschwinglicher Teil ihrer Studienbibliothek und strahlen zugleich in die Öffentlichkeit aus. In einer kritischen Würdigung hat der Kritiker Georg Seeßlen die Reihe deshalb als »demokratische Wissensmaschine« bezeichnet.1
Als diese Wissensmaschine vor 50 Jahren, am 11. Mai 1973, mit der Auslieferung ihrer ersten zehn Titel ansprang, war ihr Erfolg keineswegs ausgemacht. Die unmittelbare Resonanz überraschte selbst einen ihrer Konstrukteure: »Erstaunlich die Bereitschaft, die dem Suhrkamp Verlag entgegengebracht wird«, notierte Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld in seiner Chronik nach einem Treffen mit 25 Buchhändlern in Königstein am 7. Mai 1973, wo er die Reihe persönlich vorgestellt hatte.2 Zehn Jahre zuvor hatte Unseld mit dem Aufbau eines wissenschaftlichen Programms begonnen, bestärkt durch den Erfolg einer anderen Reihe des Verlages: »Ein interessantes Ergebnis für die Beurteilung des Leserpublikums hat die Verkaufsstatistik der ersten 20 Bände der ›Edition Suhrkamp‹ gebracht«, vermerkte die Pressestelle in einer Mitteilung vom Juli 1963:
Nicht etwa die als »gängig« geltenden Autoren halten bei den Nachbestellungen die Spitze, sondern die Philosophen Adorno, Wittgenstein und Bloch. Innerhalb von vier Wochen wurden von den Bänden dieser drei Autoren je fast 10.000 Exemplare verkauft. Bereits nach 14 Tagen mußten Neuauflagen in Auftrag gegeben werden.
Darüber hinaus hatte Hans Magnus Enzensberger, enger Vertrauter des Verlegers, hellsichtig gerade den Bereich zwischen den reinen Fachverlagen und der Popularisierung im Taschenbuch als Marktlücke identifiziert:
ich halte es nicht für richtig, daß man dieses gebiet ganz und gar häusern wie de gruyter, springer, niemeyer usw. überläßt. diese häuser hatten im 19. jahrhundert eine funktion, die ihnen heute nur noch teilweise zukommt. für hochspezialisierte arbeiten sind sie nach wie vor der richtige ort. ich könnte dir aber auf anhieb ein dutzend titel nennen, die heute anderswohin gehören. dort wo sie erscheinen erreichen sie nicht ein viertel ihres wahren publikums. wir haben also einerseits reine gelehrten-verlage, die so teuer sind, daß privatleute ihre werke nicht erwerben können, nur institute und bibliotheken, andererseits das sachbuch und die popularisierung im paperback. es fehlt eine zentrale instanz.3
Wie aber sollte diese »zentrale instanz« aussehen, wie geschaffen werden? Unseld, der bereits Erfahrungen bei einem »gelehrten-verlag« gesammelt hatte,4 unternahm erste Versuche. Er konnte dafür an die schon unter seinem Vorgänger Peter Suhrkamp entwickelte Programmmischung aus Literatur und anspruchsvoller Essayistik sowie Philosophie anknüpfen, hatte mit einem eigenständigen wissenschaftlichen Programm allerdings zunächst nur mäßigen Erfolg. 1966 erschienen die ersten sechs Bände der Reihe Theorie, als deren Herausgeber er immerhin die bereits mit wichtigen Beiträgen hervorgetretenen Philosophen Hans Blumenberg, Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes gewinnen konnte.5 Die Komposition der Reihe aus deutschsprachigen Erstveröffentlichungen, Neuausgaben »vergessener oder falsch verrechneter Traditionen des Denkens« (wie es in der Verlagskommunikation hieß) sowie Übersetzungen insbesondere aus dem Englischen und Französischen nimmt bereits ein Charakteristikum vorweg, das für das wissenschaftliche Programm des Verlags prägend werden sollte. Programmatische Erwägungen haben dabei eine Rolle gespielt, etwa die Vorstellung, ein Aufklärungsprogramm zu machen, das »seine moralische Glaubwürdigkeit« aus der Absicht, »gegen den Faschismus wirken zu wollen«, bezog.6 Entscheidend waren aber ebenso ökonomische, pragmatische und strategische Überlegungen und Umstände, etwa die Einsicht, dass der Bedarf an günstigen Klassikerausgaben durch andere Verlage bereits gedeckt sei, oder der Unwillen etablierter Kolleg:innen, sich trotz prominenter Herausgeberschaft mit ihren Hauptwerken in die neue Reihe locken zu lassen. Oft gaben Neigungen und Prioritäten den Ausschlag, und der Zufall mischte mit. So entstanden Listen mit Titelvorschlägen, die in Briefen des Verlags auch mal als »Kraut und Rüben« qualifiziert wurden.7
Als Klammer etablierte sich schließlich, dass es um Bücher gehen solle, die sich zum einen an der Wissenschaft und der Reflexion auf sie orientieren, zum anderen aber auch für den studentischen »Gebrauch« geeignet seien. Diese Klammer hält auch die stw zusammen. In der Reihe Theorie erschienen schließlich zahlreiche Titel, die heute zu Grundlagentexten der Geistes- und Sozialwissenschaften gehören, darunter Thomas S. Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Michel Foucaults Archäologie des Wissens oder Karin Knorr-Cetinas Die Fabrikation von Erkenntnis. Sie wurden wahrgenommen, auch besprochen und nahmen in den Lesebiografien derjenigen, die zwischen 1966 und 1973 in der Bundesrepublik Philosophie oder Soziologie studierten, einen signifikanten Stellenwert ein. Die hohen Erwartungen des Verlegers an Resonanz und Verkaufszahlen erfüllte die Theorie-Reihe jedoch nicht. Also unternahm Unseld einen neuen Anlauf und brachte zum Start der Reihe suhrkamp taschenbuch – der ersten Reihe des Verlages, die das Wort Taschenbuch im Namen führte – die Neuausgabe von Jürgen Habermas’ Theorie und Praxis, das ursprünglich bei Luchterhand erschienen war. Die Neupräsentation von Titeln gibt ihnen wie dem Verlag immer auch die Chance auf einen neuen Erfolg. Und der Suhrkamp Verlag erwies sich in dieser Hinsicht als ausgesprochen findig.
Der Erfolg der st war überwältigend. In den ersten drei Monaten werden 300 000 Exemplare verkauft.8 Im Mai 1973, genau zehn Jahre nach dem Start der edition suhrkamp und knapp sechs Jahre nach den ersten Bänden der Theorie, zog der Verlag deshalb nach: mit den ersten zehn Bänden der neuen Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft, darunter alte Bekannte aus der Theorie-Reihe (hier ein Link zur ersten stw-Verlagsankündigung). In Vorbereitung auf seinen Vortrag in Königstein notierte sich Unseld Beweggründe für den Schritt zur wissenschaftlichen Taschenbuchreihe, trotz »eigene[n] Zögern[s]«, darunter: »Änderung der Rezeptionsgewohnheit junger Leute«, »Gebrauch und Praxis« und »Wissenschaftliches Zeitalter«; aber auch: »Aktivität anderer Verlage«, die sich »am Busen Suhrkamps« genährt hätten. Als »Zielgruppe« der stw bestimmt er »Studium: Grundorientierungen«.
Die stw wurde ein Erfolg. Die Reihe Theorie büßte dagegen zunehmend ihre »Pilot-Funktion« (Unseld) ein. Warum gelang der stw, woran die Theorie scheiterte? Der Literaturwissenschaftler Jan Bürger hat die charmante These aufgestellt, dass die Reihe in einer Zeit ihren Durchbruch erlebte, in der mit den Studierendenzahlen auch der Bedarf an Orientierung im unübersichtlichen Wissenschaftsgeschehen rasant anwuchs. Hatte sich dieses Bedürfnis um 1968 noch mit einer Abneigung gegen das Kanonische verbunden, ist es der stw ganz ohne Leselisten oder andere allzu pädagogisch anmutende Hilfestellungen sukzessive gelungen, dieses »verpönte« Kanonische unter der Hand wieder zu etablieren (und den Kanon damit zu verwandeln). Dazu hat auch eine vergleichsweise große Offenheit bei strenger Wahrung der den Zusammenhang stiftenden Gestaltungskonventionen sowie wissenschaftlicher Standards beigetragen. Nicht die programmatisch eng definierte Reihe ist hier Leitbild, sondern die Bibliothek: das Nebeneinander der gleich aussehenden und gleichberechtigten Bände im Bücherregal. Der Suhrkamp Verlag nahm, so beschreibt es Bürger, »akademische Neulinge als Kunden an die Hand und einigte sich mit ihnen auf das Programm der stw«, mit der Folge, dass das geisteswissenschaftliche Studium »mindestens ein Vierteljahrhundert lang auf die stw-Reihe gestimmt bleiben« sollte.9
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In seinem Buch Die Legitimität der Neuzeit von 1966 widmet sich Hans Blumenberg der merkwürdig melancholisch anmutenden Ahnung Denis Diderots, dass das große aufklärerische Vorhaben der enzyklopädischen Sammlung und Systematisierung allen Wissens mit der konkreten Encyclopédie, an der er arbeitete, bereits an sein Ende gekommen sein könnte: »L’Encyclopédie peut aisément s’améliorer; elle peut aussi aisément se déteriorer« – »Die Enzyklopädie kann sich leicht verbessern, sie kann sich aber auch leicht verschlechtern«. Das liege, schreibt Blumenberg, schlicht an der »Konkurrenz der beiden Bedürfnisse, den Bestand aufzunehmen und den Fortschritt zu orientieren. […] Dem Organisator der Enzyklopädie wird die Problematik des Zeitverbrauchs deutlich.«10 Blumenberg bringt die Folgen dieser Entwicklung für den Einzelnen auf eine bündige Formel: »Wir wissen mehr über die Welt als irgendeine Zeit vorher, aber ›wir‹ heißt in keinem Fall ›ich‹.« »Das Wir dieses Satzes«, heißt es weiter, »begegnet dem Ich nur als Institution, als Enzyklopädie, als Akademie, als Universität«.11 Das aber trage, gerade wegen der unabweisbaren Erfolge und der Unausweichlichkeit dieser Verwissenschaftlichung, zum »Unbehagen« bei, das die Einzelne gegenüber der Wissenschaft verspüre.
Die wohl erfolgreichste deutschsprachige wissenschaftliche (Taschen-)Buchreihe der 1950er-Jahre, die von dem konservativ orientierten humanistischen Philosophen Ernesto Grassi herausgegebene Rowohlts Deutsche Enzyklopädie (rde), hatte versucht, dem Problem mit einer Operationalisierung des enzyklopädischen Projekts in von Einzelautor:innen besorgten Monografien Herr zu werden. Die Auflagen waren enorm, gingen oft bis in die 50 000. Ihr Schlagwort war »zweite Aufklärung«12: Die Reihe sollte »das Wissen des XX. Jahrhunderts im Taschenbuch« versammeln. Die Bände der rde waren thematisch orientiert, von Fachleuten verfasst und folgten in ihrem Aufbau einem klaren Schema: Ein enzyklopädisches Stichwort als Einführung, dann der Text und im Anhang eine biografische Notiz zum Verfasser (ganz überwiegend Männer, ein Spiegel der damaligen (Macht-)Verhältnisse im Wissenschaftsbetrieb, die auch Theorie und Anfangszeit der stw noch prägten) sowie Personen- und Sachregister.
Anders demgegenüber die stw: Hier ist es nicht die (nachträgliche) Überblickdarstellung , sondern – jedenfalls dem Anspruch nach – das (vorläufige) Ergebnis aktueller Forschung, das die Leser:innen erreicht. Die Idee ist nicht, enzyklopädisch den aktuellen Stand des Wissens insgesamt umfassend dazustellen oder avantgardistisch eine politisch-programmatische Linie vorzugeben. Zusammen mit dem schmucklosen, inzwischen klassisch gewordenen Design unterstreichen die äußerst reduzierten Paratexte eher den Anspruch, am Ball der laufenden wissenschaftlichen Reflexion zu bleiben – auch wenn damit eine starke Bindung an das System der Universitäten einhergeht. Für Georg Seeßlen ist die Wiederveröffentlichung von Habermas’ Erkenntnis und Interesse als erstem Band der Reihe in diesem Sinne paradigmatisch: »Auseinandersetzung mit dem Wissen soll in einer möglichst direkten und freien Art geschehen, nicht mehr betreut und formatiert wie noch bei der rde.«13 Mit dieser anspruchsvollen Art einer Abrüstung ist es der stw über Jahrzehnte gelungen, die Einübung eines Verhältnisses zur Wissenschaft zu befördern, das Blumenberg als »Nötigung zum Erwerb der Fähigkeit provisorischen Umgangs, transitorischen Vertrauens innerhalb individueller Lebenszeit« beschrieben hat.14 Die Notwendigkeit zum Erwerb eines solchen Verhältnisses ist seit 1973 vermutlich nicht geringer geworden. Das liegt auch daran, dass diese Fähigkeiten sich heute neuen Umständen anpassen müssen, wobei die gesteigerte Medienkonkurrenz hier nur ein Aspekt ist. Auf stw 1 sind bis heute knapp 2400 Bände gefolgt.
Für die Zurverfügungstellung der Abbildung danken wir dem Deutschen Literaturarchiv Marbach.