Irgendwann nach Mitternacht kommt die Müllabfuhr. Ein Mann steigt aus. Er hievt und wirft Säcke, Kisten, alte Möbel und anderen Kram auf die Ladefläche des Wagens. Es ist still in Mercato um diese Zeit. Und das ist sonderbar, denn ein Bahnhofsviertel stellt man sich belebter vor. Doch außer dem Lärm der Müllabfuhr ist weiter nichts zu hören. Der Wagen steht auf der Via San Cosmo Fuori Porta Nolana. Die Straße runter, in Richtung Osten, sind ein paar Lichter zu sehen. Da sind ein paar Straßenlaternen und die hell erleuchteten Spätkäufe, die 24/7 geöffnet haben und entweder Singh Mercato oder Singh Alimentari heißen. Einer dieser Spätkäufe liegt direkt neben unserem Haus. Er wird von einem älteren Mann aus Neu-Delhi geführt, der Turban trägt und bis spät in die Nacht vor seinem Laptop an der Kasse sitzt, um sich untertitelte YouTube-Videos anzusehen. Wenn wir bei ihm Bier kaufen oder Entkalkungsmittel, fragt er uns, wie es uns geht, was wir machen, ob wir zusammen sind. Er verwickelt uns in ein kurzes Gespräch. Er winkt zum Abschied und lacht. Dann schaut er wieder auf seinen Laptop und wartet auf Kundschaft. Doch selbst am Wochenende ist hier nachts kaum jemand unterwegs. Man sieht ein paar Schatten in den Querstraßen. Ein paar Autos.
Heute Morgen hat uns der Obst/Gemüsemann geweckt. Auf seiner Route durch Mercato macht er immer für einige Minuten auf einem kleinen Parkplatz neben unserem Haus halt. Dann rappt er sein Angebot runter. Auf Neapolitanisch. Durch ein rauschendes Megafon. Laut und eindringlich. Aber es gibt eindeutig schlechtere Wecker. Der Obst/Gemüsesingsang hat seine ganz eigene Melodie. Außerdem schmecken die Kartoffeln, die der Mann verkauft, gut. Und die Orangen sind saftig, klebrig und sehr süß. Kaum hat der Obst/Gemüsemann angehalten und das Megafon bedient, kommen die Leute. Alte und weniger alte. Einige mit ihren erwachsenen Töchtern und/oder Söhnen. Sie kaufen die Orangen und Kartoffeln kiloweise. Manchmal hat der Obst/Gemüsemann auch Tomaten vom Vesuv dabei. Er verkauft die Sachen von der Ladefläche seines Wagens herunter. Er nimmt das Geld entgegen, ohne es zu zählen. Händigt Tüten aus, die die Leute schwerfällig nach Hause tragen. So geht das alle drei, vier Tage. Jedes Mal hält der Wagen auf dem Parkplatz neben unserem Haus. Gleich neben der Bäckerei im Erdgeschoss, aus der es morgens nach frischen Backwaren riecht und die das kleine Caffè del Ponte ein paar Häuser weiter täglich mit Brioches, Sfogliatelle, Plätzchen und Brot versorgt. Wenn der Obst/Gemüsemann kommt und das Viertel weckt, beginnt nicht nur unser Tag. Auf der Via San Cosmo Fuori Porta Nolana, eine der größten Straßen Mercatos, sieht man dann die Leute auf und ab, ins Caffè del Ponte und/oder zur Arbeit gehen. Man sieht den sich stauenden Verkehr, die Autos und die Motorini, die sich an ihnen vorbei drücken. Man sieht die Händler ihre Auslagen rausbringen, man sieht die Leute auf ihren Balkonen Wäsche aufhängen und wie sie sich dabei mit der Nachbarin oder dem Nachbarn unterhalten. Man hört Hunde bellen, die Hupen der sich stauenden Autos und die Durchsagen des Hauptbahnhofs in ein paar hundert Metern Entfernung. Der Geruch von Kaffee, Backwaren, Abgasen und Hundescheiße liegt in der Luft.
Wir gehen raus. Wenn man auf der Via San Cosmo in Richtung Innenstadt, in Richtung Westen zur Porta Nolana läuft, kommt man an ihrem Ende, wo sie in den Corso Garibaldi mündet, an einem unscheinbaren Ladengeschäft vorbei. Auch hier wird Obst und Gemüse verkauft. Allerdings jeden Tag und also auch sonntags. Das eigentlich Besondere an dem Geschäft aber ist: Hier bedienen zwei Teenager, eine vielleicht 15-jährige und ihr kleiner Bruder, die die Kundinnen und Kunden allerdings so selbstverständlich in Empfang nehmen und versorgen, dass man meinen könnte, sie würden den Laden schon seit Jahren allein führen. Kein Erwachsener ist zu sehen. Höchstens abends mal, an der Kasse. Und wenn neues Obst und Gemüse geliefert wird. Dann laden zwei großgewachsene Männer die Kisten aus und tragen sie in den Laden. Mit den beiden Geschwistern haben wir uns ein wenig angefreundet. Ab und zu kaufen wir bei ihnen Clementinen und die hausgemachten, leckeren passierten Tomaten, die sie in dunklen, mit Kronkorken verschlossenen Flaschen anbieten.
Vor der Porta Nolana ist tagsüber Markt. Hier bekommt man fast alles für ein paar Euro. Bettzeug und Schuhe, Werkzeug, Socken und Unterwäsche. Geht man durch die Porta Nolana in Richtung Corso Umberto I., kommt man an weiteren Marktständen bzw. Tischen mit allerlei Kram vorbei, an den Prostituierten und den Männern, die Taschentücher, Feuerzeuge und Kugelschreiber verkaufen, um überhaupt etwas zu verkaufen, um überhaupt etwas zu tun zu haben. Dann steht man auf dem Corso Umberto I. und hat Mercato verlassen. Besonders groß ist das Viertel nicht. Es erstreckt sich ungefähr vom Hauptbahnhof bis zum Hafen, wird zur Innenstadt hin von der Porta Nolana und der alten Stadtmauer begrenzt und stößt stadtauswärts bis Gianturco, dem Chinatown Neapels, vor. Offiziell sollen hier etwas über 10.000 Menschen leben.
Kommt man abends aus der Innenstadt zurück, hat sich Mercato verändert. In der Gasse vor der Porta Nolana stehen keine Tische mehr, dafür verkauft die dicke Frau, die missmutig auf die Prostituierten aufpasst, an einem kleinen Stand Zigaretten. Zwei, drei Kebab-Läden haben geöffnet; es sind deutlich weniger Menschen unterwegs. Was nicht heißt, dass es in der Gasse jetzt leiser wäre. Ein paar alte Frauen unterhalten sich lautstark von Fenster zu Fenster, die Motorini knattern, ein Mann redet auf einen Jungen ein; eine Gruppe Jugendlicher zündet ein paar Böller und rennt. Auf dem Platz vor der Porta ist vom Markt nichts mehr zu sehen. Hier sitzen jetzt die Trinker, zwischen Plastikfolie, kaputten Kleiderbügeln und anderem Müll, und grüßen ins Nichts. Der Kiosk am Platz hat geschlossen. Wir überqueren den Corso Garibaldi und sind zurück auf der San Cosmo. Im Gran Caffè Tizzy, das neonblau ausgeleuchtet ist, stehen ein paar Männer vor Spielautomaten. Eine Frau sitzt an einem der weißen Plastiktische vor einem Nastro Azzurro und rubbelt mit einer Münze ein Rubbellos frei. Wir gehen weiter und grüßen die beiden Teenager des Gemüseladens, die, immer noch freundlich, die Leute bedienen. Auf der anderen Straßenseite schiebt der Apotheker seine Vespa aus seinem Laden, er lässt den Rollladen herunter und schließt ab. Die Vespa steht tagsüber mitten im Verkaufsraum. Sie ist alt und gelb und macht sich als Deko zwischen Cremes, Bonbons, Pflastern und Gleitgel erstaunlich gut. Der Apotheker winkt in Richtung Gemüseladen und fährt davon. Er kommt, genau wie wir jetzt, am Uhrmacher vorbei, der mit der neuen Baby-G wirbt, und an einem ziemlich trostlosen Fastfoodladen, der sich Yam Yam nennt und trotzdem keine Hungrigen anlockt. Alle, die jetzt auf der Straße sind, bewegen sich schnell und ungewohnt zielstrebig. Kein Schlendern, kein Plaudern, die San Cosmo wird abends kaum beleuchtet. Ein paar Laternen geben fahles, gelbes Licht ab. Die Spätshops haben ihre Beleuchtung noch nicht angeschaltet. Die Straße scheint unwirklich. Auch wir gehen jetzt schneller. Vor der Brücke, die über die Bahngleise führt, liegt allerlei Müll vor einer überfüllten Tonne, Essensreste, Windeln, Klopapier. Katzen streunen um den Haufen herum, ein Mann sucht zwischen dem Abfall nach Brauchbarem. Wenn man die Brücke überquert hat, kann man unser Haus schon fast sehen. Den bröckelnden Putz, die herunterhängenden Kabel, alte Wäscheleinen, Balkone. Die Bäckerei hat schon geschlossen. Aber im Caffè del Ponte brennt noch Licht. Vor der Tür stehen ein paar Leute und diskutieren über Fußball. Wind kommt auf. Es riecht nach gebratenen Paprika, Fleisch und Frittierfett. Irgendwo explodiert Feuerwerk. An einer Einfahrt unserem Haus gegenüber ist ein großer Glaskasten angebracht. Abends ist er hell erleuchtet. Man kann darin ein Kruzifix erkennen, den Stadtheiligen San Gennaro und einen ausgeblichenen, grinsenden Plastikmaradona, der einen Daumen hebt. Um die Heiligen herum verteilt stehen und liegen Fotografien von kürzlich verstorbenen Bewohnern Mercatos, alle lächeln.
Wir betreten unser Haus und nehmen den Fahrstuhl. Um ihn zu betätigen, muss man 5 Cent in einen kleinen Kasten werfen und anschließend den Stock wählen, in den man möchte. Während der Fahrt hört man das Klappern von Geschirr, Geschrei und Hundegebell; es gibt Abendessen. Man riecht und hört es, denn die Küchenfenster zum Treppenhaus sind geöffnet. Die Bewohner sind zu Hause – und hungrig. Wir aber sind müde. Oder vielmehr die Sinne. Der Kopf wird schwer, der Blick fahrig, alles verwischt im Spiegel der kleinen Kabine; der Lift schaukelt jetzt leicht, und kurz haben wir das Gefühl, das ganze Haus, ganz Mercato vibriert.